Mein Leben hing am seidenen Faden

19. Jänner 2014 in Chronik


Er war unterwegs, um Notleidenden zu helfen. Ausgerechnet dabei verunglückt Matthias Netwall aus Lauterbach (bei Stolpen/Sachsen) schwer. Seit einem Jahr sitzt er im Rollstuhl. Ein Beitrag von Matthias Pankau.


Stolpen (kath.net/idea) Es ist die Nacht vom 13. auf den 14. Januar 2013. Zusammen mit drei Frauen ist Matthias Netwall unterwegs ins rumänische Sacele (bei Kronstadt). Dort betreibt ihr Verein projekt LEBEN e.V. eine sozialdiakonische Arbeit unter Roma.

Nahe der tschechischen Stadt Brünn hat der Kleinbus plötzlich eine Panne. Projektleiter Netwall fährt auf den Seitenstreifen, sichert das Fahrzeug und alarmiert den Pannendienst. Weil draußen Minusgrade herrschen, warten die vier im Auto. Plötzlich naht von hinten ein LKW. Nahezu ungebremst kracht er in den Kleinbus mit den vier Helfern aus Sachsen. Sie überleben wie durch ein Wunder, werden aber zum Teil schwer verletzt.

Am schlimmsten erwischt es Netwall. Mit Brüchen und Wirbelfrakturen kommt er sofort ins Unfallkrankenhaus in Brünn. Die Ärzte operieren ihn mehrfach, kämpfen um ihn. „Mein Leben hing am seidenen Faden“, berichtet der 50-Jährige. Nach wenigen Tagen steht fest: Netwall wird querschnittsgelähmt bleiben.

„Die Frage nach dem Warum trägt nichts aus“

Der Familienvater nahm die Nachricht gefasst auf. „Ich habe mich getragen gefühlt“, sagt er mit ruhiger Stimme. „Das war ein großes Geschenk und hatte wohl auch mit den Gebeten vieler Menschen zu tun.“ Der Flug nach Dresden und die Fahrt zur Weiterbehandlung in die Universitätsklinik einige Tage nach dem Unfall seien für ihn „wie der Beginn eines neuen Lebens“ gewesen.

Aber warum trifft es gerade jemanden so schlimm, der sich aus christlicher Überzeugung heraus seit Jahren für benachteiligte Menschen einsetzt? „Die Frage nach dem Warum trägt nichts aus“, entgegnet Netwall. Wenn man Gott aufzähle, was man Gutes getan habe, und erwarte, dass er einen deshalb belohnen und behüten müsse, dann habe das wenig mit dem Gott der Bibel zu tun. Netwall ist selbst im Leid dankbar. Denn man könne die Frage nach dem Warum „auch in die andere Richtung stellen“, wie er es formuliert: „Warum sind wir nicht in Rumänien verunglückt, sondern in der Nähe eines der besten Unfallkrankenhäuser auf der ganzen Strecke? Oder warum hat uns Gott auf den vielen tausend Kilometern in den Jahren vorher bewahrt?“

Eine Botschaft, die Leben verändert

Mit Sicherheit sind es Zehntausende, wahrscheinlich sogar Hunderttausende Kilometer. Denn der Verein, dem der Sozialpädagoge seit 2002 als Geschäftsführer vorstand, ist seit mehr als 15 Jahren unter den Roma aktiv. „Wir haben in den 90er Jahren Jugendfreizeiten über den Jugendverband Entschieden für Christus (EC) in Rumänien veranstaltet“, berichtet Netwall. Das dortige Leid habe viele so bewegt, dass sie etwas für diese Menschen tun wollten. Über einen Missionar sei dann der Kontakt zu einer jungen Roma-Kirche entstanden, die der Verein nicht nur materiell unterstützt. „Uns liegt besonders die geistliche Arbeit am Herzen“, sagt Netwall. Viele Mitglieder dieser in der rumänischen Gesellschaft verachteten Volksgruppe hörten in der Kirche zum ersten Mal: Du bist geliebt und angenommen, wie du bist. „Und das verändert ihr Leben“, so Netwall.

Die Roma-Kirche wuchs von 120 auf 900 Gemeinden

Die Roma-Kirche ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Gab es 1998 noch 120 Roma-Gemeinden im Land, so sind es gegenwärtig rund 900 mit insgesamt 130.000 Mitgliedern (unter den schätzungsweise 1,9 Millionen Roma in Rumänien). Für die Kirchenleitung ist dieses rasante Wachstum aber zugleich eine Herausforderung, weiß Netwall. Denn es gebe kaum ausgebildete Mitarbeiter. Aus diesem Grund investierte der Verein in den letzten Jahren auch verstärkt in Bildungsprojekte. So unterstützt er etwa eine Hausaufgabenhilfe, die jeden Tag von 400 Kindern in Anspruch genommen wird. Oder er finanziert über Bildungspatenschaften 38 Jugendlichen die monatliche Busfahrkarte zum Gymnasium. Einige junge Roma studieren inzwischen sogar. Aber der Bedarf sei noch viel größer, weiß Netwall. „Wir haben eine Warteliste von Jugendlichen, die auf Unterstützung hoffen.“

Wir helfen den Roma vor Ort: in Rumänien

Von der aktuellen Debatte um eine sogenannte „Armutseinwanderung“ von Rumänen und Bulgaren nach Deutschland und dem damit verbundenen Missbrauch von Sozialleistungen hält der 50-Jährige wenig. „Kaum einer verlässt seine Heimat freiwillig“, sagt er. Wer die Wohnsituation in vielen Roma-Siedlungen einmal gesehen habe, könne besser verstehen, warum Menschen auswanderten und auf ein besseres Leben in Deutschland hofften. „Wer von uns würde es überhaupt nur eine Woche lang bei -25°C in einer ungedämmten Hütte mit acht oder zehn Menschen auf 20 Quadratmetern aushalten?“ Natürlich gebe es immer auch Menschen, die ein Sozialsystem bewusst ausnutzten; aber die breite Masse sei das nicht. Wenn Fördergelder für Roma wirklich an der Basis ankämen und sinnvoll verwendet würden, wäre manche Diskussion wie die aktuelle überflüssig, zeigt er sich überzeugt. Der Verein will deshalb vor allem die Eigeninitiative vor Ort stärken.

„Mein Glaube und die Familie geben mir Kraft“

Und die Projekte laufen weiter, auch wenn Netwall die Geschäftsführung des Vereins nach dem Unfall abgegeben hat. „Es entlastet mich sehr zu wissen, dass nicht alles an mir hängt“, bekennt er. „Ich darf auch schwach sein.“ Kraft geben ihm neben seinem Glauben vor allem seine Frau Rhena und die beiden Kinder Naemi (17) und Michael (15). „Und wir erleben, wie uns viele Menschen – Freunde, Bekannte und Unbekannte – unterstützen“, erzählt er. Das geschehe auf ganz unterschiedliche Weise – mit Fahrdiensten, einem Einkauf, mit Gebeten und Gaben. „Wir sind reich beschenkt“, sagt Netwall. Wenn seine Kräfte es zulassen, möchte er in diesem Jahr anfangen, wieder stundenweise zu arbeiten.

Foto: (c) Michaela Voss



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