'Die ist schon wieder schwanger' – Alltag in der Großfamilie

6. November 2013 in Familie


Wer heute mehr als zwei Geschwister hat, wird komisch angeschaut und muss sich nicht selten rechtfertigen. Dabei kann der Alltag einer Großfamilie so schön sein – ein Erlebnisbericht. Von Rudolf Gehrig


Bonn (kath.net/f1rstlife.de) Ich war siebzehn Jahre alt, als ein aufgeregtes Raunen durch das 500-Seelen-Dorf Seubrigshausen ging: „Hast du schon gehört? Die Gehrig ist schon wieder schwanger!“ Dass meine Mutter im Alter von Mitte Vierzig noch einmal ein Kind bekommen sollte, war an sich schon tratschwürdig genug; dass es allerdings schon das sechste Kind ist, das meine Mutter zur Welt bringen sollte, war unerhört. Trotzdem freute man sich mit uns, es gab viele Glückwünsche und alle fieberten mit, ob es nun ein Junge oder ein Mädchen werden sollte. Die Reaktionen meiner Klassenkameraden fielen zum Teil etwas anders aus: „Sag‘ mal, hattet ihr schon wieder Stromausfall? Ist es wegen dem Kindergeld? Oder sind deine Eltern einfach zu blöd zum Verhüten?“ Diese Sprüche waren gemein, aber nichts Neues; ich hatte sie bereits zwei Jahre davor schon einmal gehört. Meine Brüder und ich waren damals noch zu viert, ich war der Älteste mit einem Abstand von sechs Jahren zum jüngsten Bruder.

Dann bekamen wir endlich eine Schwester. Sie war klein, zahnlos und beinahe glatzköpfig, aber dennoch eroberte sie unsere Herzen im Sturm. Ihre Geburt sorgte auch außerhalb der Verwandtschaft für viel Wirbel und unterschiedliche Reaktionen. Hämisch grinsend wurde ich beiseite genommen: „Das war dann wohl ein Unfall, oder? Es gibt heutzutage viele Möglichkeiten, so etwas zu verhindern, aber gut, wenn ihr unbedingt meint, dass ihr euch das leisten könnt…“ – Mich, den stolzen großen Bruder, machten diese Unverschämtheiten einfach sprachlos. Aber drei Monate später verstummten selbst die größten Lästermäuler: An einem wunderschönen Oktobertag machte unsere kleine Schwester aufgrund eines seltenen, aber schweren Herzfehlers 78 Tage nach ihrer Geburt die Augen zu – für immer. Meine Eltern hatten um ihr Leben gekämpft, sie hielten meine Schwester auch in ihren letzten Stunden im Krankenhaus auf den Armen, als sie sich mit einem unbeschreiblichen Lächeln auf den Lippen von der Erde verabschiedete.

Und täglich grüßt das Murmeltier

In einer Großfamilie zu leben ist auch ohne solch dramatischer Ereignisse alles andere als langweilig. Das geht schon früh am Morgen los, wenn so nach und nach bei jedem deiner Geschwister der Wecker angeht und der große Run auf das Badezimmer beginnt. Um Streit zu vermeiden, hat Mutter einen Tischdienst-Plan eingeführt, aber das macht nichts, wenn wir einen Grund brauchen, um uns zu kloppen, haben wir bis jetzt immer etwas gefunden. Beim Frühstück herrscht bereits ein riesiger Lärm; der C-Bruder beschwert sich, weil der D-Bruder ihn unter dem Tisch getreten hat, Mama schimpft den B-Bruder, dass er nicht so dick Butter auf das Brot schmieren soll, Papa ist genervt, weil ich ihm jetzt erst die miserable Matheschulaufgabe zur Unterschrift vorlege und die kleine Schwester fegt mit der Marmelade verschmierten Hand Mamas Kaffeetasse vom Tisch. Das Pausenbrot macht sich jeder selber, dann zeichnet Mama jedem mit Weihwasser ein Kreuzzeichen auf die Stirn und wir rennen zur Bushaltestelle.

Der B-Bruder macht bereits eine Ausbildung, verdient Geld, was er mir bei jeder Gelegenheit auch unter die Nase reiben muss, dass er schon beinahe selbstständig ist, während ich, der Ältere, immer noch „dem Staat auf der Tasche liege“. Der C-Bruder besucht die Mittelschule, der Jüngste geht auf meine Schule und hat bei meinem ehemaligen Lateinlehrer ein schweres Erbe anzutreten: „Oh nein, kommen da noch mehr Gehrigs?! Bis eure Schwester alt genug ist, darf ich hoffentlich in Frührente!“ Da wir alle unterschiedlich aus der Schule kommen, kocht Mama meist auf Abend hin. Der C-Bruder hat eine Tüte Chips in seiner Sporttasche versteckt und versucht, sie an Mama vorbei zu schmuggeln. Der B-Bruder kommt mit ölverschmierter Latzhose von der Arbeit und fährt erst mal seinen Computer hoch, während der D-Bruder schon auf der Matte steht und erwartungsfroh fragt: „Zockst du was? Kann ich zuschauen?“

Chaos, Trubel, Heiterkeit

Dann kommt Papa von der Arbeit, dreht meine Stereoanlage leiser und sagt zum B-Bruder, er soll seine Zeit besser nutzen statt sie mit Computerspielen zu vergeuden. Beim Abendessen hat der C-Bruder erstaunlich wenig Hunger und noch einen Chips-Krümel auf dem Pullover, der B-Bruder erzählt, dass der Chef ihn gelobt hat und ich versuche, dem D-Bruder unauffällig meinen Salat rüberzuschieben, während die Kleine irgendein Kinderlied vor sich hin trällert und plötzlich das Heulen anfängt, weil der D-Bruder ihr in die Wange zwickt. Papa versucht für Ruhe zu sorgen („Ich habe eure Mutter den ganzen Tag nicht gesehen, jetzt will ich auch mal ein paar Worte mit ihr sprechen“) und Mama wartet sehnsüchtig darauf, dass jemand unaufgefordert ihr Essen lobt. Dann wieder Streit beim Spülmaschinen-Einräumen, der C-Bruder lässt einen Teller fallen, ich spiele mit dem D-Bruder Fußball mit einem Topfuntersetzer und der B-Bruder beschwert sich, dass er immer alles alleine machen muss.

Eine stinkende Kupplung und die richtige Streitkultur

Ich verstehe bis heute nicht, warum viele den Familien so feindselig gegenüberstehen. Nirgends lernst du Toleranz so schnell wie an diesem Ort. Einmal habe ich mit unserem Auto einen Burni versucht, sodass der ganze Innenraum nach Kupplung stank. „Bist du bescheuert“, schrie mein B-Bruder, „weißt du, wie teuer, so eine Kupplung ist?“ – „Nö, weiß ich nicht“, antwortete ich mit einem arroganten Achselzucken. „Aber irgendwann bin ich mal so berühmt und stinkreich, dass mit deiner blöden Kupplung meinen Garten umgraben werde.“ Dies war eines jener halbernsten Duelle zwischen meinem Bruder, dem praktischen Handwerker, der sich für etwas Besseres hielt, und mir, dem poetischen Spinner, der sich für etwas noch Besseres hielt. Halb wütend, halb lachend hat er mich dann „arrogante Sau“ genannt und dann wir haben uns geprügelt und wieder vertragen. Wir mussten erst lernen, dass der andere eben anders und trotzdem okay ist.

Die Vielfalt der unterschiedlichen Begabungen macht das Familienleben reicher. Ich wäre ganz schön aufgeschmissen gewesen, als ich neulich spät in der Nacht mit dem Auto unterwegs war und plötzlich einen Platten hatte. Ohne zu Zögern kam mein Bruder – von den Eltern unbemerkt – herbeigeeilt und hat mir in Handumdrehen den Reifen gewechselt (und mir dabei vorgerechnet, wie teuer so ein Reifen ist). Am Tag darauf lagen wir uns wegen irgendetwas wieder in den Haaren. Auch das ist eine wichtige Lektion: Im Idealfall lernst du bereits in der Familie so zu streiten, ohne, dass du den anderen wirklich tief verletzt und dabei weißt, dass du dich auf ihn zu 100 Prozent verlassen kannst, wenn es darauf ankommt. Gerade für die Ehe ist es sicher nicht verkehrt, sich die richtige Streitkultur anzutrainieren, denn sowohl überzogenes Harmoniebedürfnis, als auch rücksichtlose Kampfeslust sind Gift für jede Partnerschaft.

Zigarrenrauch und Emotionen unterm Sternenhimmel

Dass gegenseitige Rücksicht wichtig ist, weiß ich auch erst, seit mir eines Nachts kurz nach zwei ein Schuh an den Kopf flog, weil ich auf meinem Bett saß und Gitarre spielte – in dem Zimmer, das ich mit meinem Bruder teilte. Und wie viel mir meine Familie tatsächlich bedeutet, habe ich erst bemerkt, als ich längere Zeit weg war. Wenn du plötzlich ein ganzes Zimmer für dich hast, ohne dich mit deinem Bruder um den Platz streiten zu müssen, wenn niemand da ist, der deinen Salat isst, wenn du eine Tüte Gummibärchen plötzlich ganz allein für dich hast, dann fehlt dir einfach was. Wenn ich hin und wieder mit meinen Eltern telefoniere, höre ich meine Brüder im Hintergrund toben und staune über ihre mittlerweile tiefen und brummigen Stimmen. Auch meine kleine Schwester hat Fortschritte gemacht, sie singt mir durch den Hörer fröhlich ein fränkisches Volkslied vor.

Nach dem 18. Geburtstag meines B-Bruders bin ich mal wieder heimgekommen. Verschwörerisch grinsend hebt er sein Kissen hoch und zeigt mir stolz zwei Zigarren, die er dort versteckt hat. Als die Eltern endlich schlafen, schleichen wir uns aus dem Haus, laufen im Mondschein über Wiesen und Felder und legen uns dann irgendwo aufs Gras. Die Hektik des Alltags ist nur noch Schall und Rauch, als wir so daliegen, in den Sternenhimmel blicken und mit unserer Zwei-Euro-Tankstellen-Zigarre kleine Rauchwölkchen in die Luft blasen. Irgendwo „da oben“ muss unsere Schwester sein, die uns vorangegangen war und sich im Himmel vermutlich regelmäßig für uns fremdschämen muss. „Irgendwie ist es schon cool, dass es uns gibt“, sagt schließlich mein Bruder. Ich nicke und habe dabei einen Kloß im Hals. Emotionalität ist unter heranwachsenden Männern immer etwas ungewohnt.

Dieser Artikel erschien zuerst in f1rstlife.de

Rudolf Gehrig ist Co-Autor des folgenden Buches:

YOUCAT Update! Beichten!
Von Dr. Klaus Dick, Rudolf Gehrig, Bernhard Meuser
27 Seiten; ab 12 Jahre
Sankt Ulrich Verlag 2013
ISBN 978-3-86744-173-5
Preis: 5.20 EUR

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Foto (c) Rudolf Gehrig


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