Für was steht heute noch die CDU?

19. Mai 2013 in Interview


Ein Interview mit der thüringischen Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht


Erfurt (www.kath.net/ Idea)
Die massivste Kritik an der CDU lautet seit Monaten, man wisse nicht mehr, wo sie stehe. Sie habe sich von ihren Hauptprioritäten – wie beispielsweise der Familie – verabschiedet. Eine Spitzenpolitikerin zeigt genau hier Flagge: Christine Lieberknecht (Erfurt). Sie ist seit 2009 die erste christliche Ministerpräsidentin in Deutschland gewesen (Heide Simonis als Ministerpräsidentin in Schleswig-Holstein von 1993 bis 2005 war konfessionslos). Und: Mit der 55-Jährigen wird erstmals ein Bundesland von einer Pastorin geleitet (einen Pastor als Regierungschef gab es bisher nur mit Heinrich Albertz in Berlin).

Seit fast vier Jahren steht die verheiratete Mutter von zwei Kindern dem Freistaat Thüringen vor. Schon seit der Friedlichen Revolution ist sie politisch in vielen hohen Ämtern aktiv. Zuvor war sie von 1984 bis 1990 Pastorin im Kirchenkreis Weimar. Dass ausgerechnet die CDU die Ministerpräsidentin in Thüringen stellt, war nicht selbstverständlich, denn nach der Landtagswahl 2009 wären auch andere Koalitionen möglich gewesen. Dass die SPD mit der CDU zusammen eine Koalition bildete, hängt – wie es heißt – mit der Persönlichkeit Lieberknechts zusammen, der auch von der Opposition hohe Glaubwürdigkeit zugebilligt wird. Mit der Ministerpräsidentin sprach Helmut Matthies.

idea: Frau Ministerpräsidentin, laut einer Untersuchung der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen im März ist das Vertrauen in die Politik auf den tiefsten Wert überhaupt gesunken. Angeblich soll nur noch 1 % der Deutschen Parteien vertrauen. Was läuft in der Politik falsch?

Lieberknecht: Diese niedrige Prozentzahl entspricht sicher so nicht der Realität. Aber dass das Vertrauen in die Politik insgesamt gesunken ist, verwundert mich nicht, wenn ich sehe, wie sich Politik inszeniert und wie dann auch Medien darüber berichten. Das tut mir umso mehr leid, wenn ich an die ehrenamtliche Tätigkeit von Hunderttausenden Mitgliedern in den demokratischen Parteien denke, die sich in vielfacher Weise für unser Gemeinwesen engagieren. Insgesamt müssen sich Politiker wieder bewusstwerden, dass sie Vorbild sein sollten. Politiker sollten anders miteinander umgehen

idea: Gehört Streit nicht zur Demokratie?

Lieberknecht: ... aber er muss nicht in Schimpferei und Polemik ausarten. So wie wir in der Politik oft miteinander umgehen, würde niemand mit seinen Nachbarn oder Kollegen reden. So wie kein Autoverkäufer auch nur ein Auto mehr verkauft, wenn er über die Marke der Konkurrenz schimpft, so gewinnt man als Politiker auch nicht an Ansehen, wenn man andere nur negativ darstellt.

Für was steht noch die CDU?

idea: Nun gibt es ja in Ihrer eigenen Partei einige Auseinandersetzungen um den Kurs. Früher stand die CDU für Wehrpflicht, Atomenergie und für die Ehe, wie sie seit Jahrhunderten besteht. Ihre Kandidaten waren bei Bundestagswahlen ausschließlich Kirchenmitglieder. Jetzt werden auch muslimische Kandidaten gefördert. Vieles, was noch vor drei Jahren unverrückbar schien, ist heute verrückt.

Lieberknecht: Es ist schlicht so, dass vieles in der CDU mehr erklärt werden muss. Für mich leiten sich die Werte unserer Partei aus dem christlichen Menschenbild ab, mit den Schwerpunkten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Im Konkreten muss sich manches ändern, anderes muss jedoch bleiben. Thema Wehrpflicht: Jahrzehntelang war sie notwendig, um die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten. Aber die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Sicherheitslage. Heute kommen wir ohne Wehrpflicht aus.

Familie: Das sind Mann, Frau und Kinder

idea: Doch auch Ehe und Familie sind am Kippen ...

Lieberknecht: Für mich steht nicht nur als Christin, sondern schon allein vom Grundgesetz her die Familie unter einem ganz besonderen Schutz. Sie ist für mich auch klassisch definiert: Mann, Frau und Kinder. Gleichzeitig nehme ich eine pluraler gewordene Lebenswirklichkeit zur Kenntnis, in der eines bleiben wird: Wie auch immer sich die rechtliche Lage entwickeln wird, die Mehrheit unserer Bürger lebt nach wie vor Familie so, wie sie sich seit Jahrhunderten darstellt. Dieses bewährte Modell zu fördern, bedeutet ja nicht Ausschließlichkeit. Was wir brauchen ist die richtige Balance zwischen Toleranz und eigenem Bekenntnis. Wir fördern Familien mit dem Thüringer Modell

idea: ... mit dem „Thüringer Modell“?

Lieberknecht: Mit diesem deutschlandweit beachteten Modell setzen wir seit 2006 ein wichtiges Zeichen. Wir plädieren nicht einseitig für die volle Berufstätigkeit beider Eltern, sondern betonen, dass auch die familiäre Erziehung durch Frau oder Mann wertvoll ist. Das heißt: Ich bin auf der einen Seite für den Ausbau von Betreuungsangeboten für die Familien, die das wünschen, und gleichzeitig auch für eine Unterstützung, wenn sich ein Ehepartner voll seiner Familie widmet.

Denn Kinder brauchen die volle Hinwendung der Eltern. Hier sollte bei der Familienplanung nicht nur immer an das Geld gedacht werden. Man lebt oft mit bescheidenen wirtschaftlichen Mitteln glücklicher, als wenn beide Eltern berufstätig sind. Man hat dann zwar mehr Geld zur Verfügung, aber auf der andern Seite könnte den Kindern Zuwendung fehlen. Vom Stress mal ganz abgesehen.

idea: Machen Sie es sich damit nicht zu einfach? Kinder kosten ja auch viel Geld.

Lieberknecht: Deshalb bin ich entschieden für das Betreuungsgeld. Bevor es in der Bundespolitik überhaupt eine Rolle spielte, haben wir in Thüringen längst damit angefangen. Fürs erste Kind erhalten Eltern ein Jahr lang 150 Euro im Monat Erziehungsgeld. Für jedes weitere gibt es einen Geschwisterbonus. Das „Thüringer Modell“ ist Vorbild für die geplante deutschlandweite Regelung. Ich werbe im Übrigen sehr dafür, Mehrkinderfamilien zu fördern, denn wir brauchen sie dringend. Doch leider mangelt es in Deutschland an Kinderfreundlichkeit.

Freuen über Kinderlärm

idea: Was meint eigentlich Kinderfreundlichkeit?

Lieberknecht: Zum Beispiel: Freude über Kinderlärm – und nicht deshalb zum Gericht zu gehen! Tatsächlich ist es doch so, dass manche Bürger einen ganzen Tag verbringen können, ohne überhaupt eine Kinderstimme gehört zu haben. Wer in ein deutsches Mittelklassehotel geht, findet kaum noch Familien mit Kindern. Wenn ich in den USA unterwegs bin, sehe ich ständig Familien mit vier und mehr Kindern. Wir dagegen sind geradezu kinderentwöhnt.

Wo Christen leben, gibt es mehr Kinder

idea: Hat nun das „Thüringer Modell“ zu mehr Kindern geführt?

Lieberknecht: Das ist bisher noch nicht erhoben worden. Um diese Perspektive geht es aber gar nicht in erster Linie, sondern um die grundsätzliche Ermutigung, um mehr Kinder zu ermöglichen. Dazu hilft übrigens auch sehr der christliche Glaube. Nirgendwo gibt es im Osten mehr Kinder als im katholischen Eichsfeld, das ja zum Freistaat Thüringen gehört. Danach haben dann evangelische Christen immer noch mehr Kinder als Religionslose. Gott vertrauen und Mut zur Zukunft haben befördern offensichtlich das Ja zu Kindern.

Die vielen Abtreibungen sind ein Skandal

idea: Nun hätten wir ja viele Probleme in Deutschland nicht – wie mangelnde Kinderzahl, die Notwendigkeit von Zuwanderung und Integration –, wenn wir nicht seit 1945 über 10 Millionen Kinder am Leben gehindert hätten. Sie sind als einzige Spitzenpolitikerin Mitglied der „Christdemokraten für das Leben“ (CDL), die sich seit 1985 in den Unionsparteien und darüber hinaus dafür einsetzen, dass die Zahl der Abtreibungen geringer wird. Mittlerweile hat man sich offensichtlich daran gewöhnt, dass über hunderttausend Kinder im Mutterleib getötet werden. Haben Sie auch resigniert?

Lieberknecht: Keinesfalls. Ich werde nicht müde, die über 100.000 Abtreibungen pro Jahr in einem so reichen Land wie Deutschland als einen Skandal zu bezeichnen. Und es macht mich sehr nachdenklich, dass laut neuester Allensbach-Umfrage nur 13 % der Deutschen Abtreibungen für nicht akzeptabel bezeichnen. Das ist umso unverständlicher, als heute der medizinische Fortschritt dazu geführt hat, dass Eltern dank Ultraschall sehen können, dass im Mutterleib schon ganz früh ein Mensch mit allem, was ihm eigen ist, heranwächst. Hier gilt es, mehr zu informieren, mehr zum Austragen von Kindern zu ermutigen und natürlich auch mehr zu helfen. Dazu versuche ich meinen Beitrag zu leisten.

Ist die „Alternative für Deutschland“ eine Konkurrenz?

idea: Mit Ihren Ansichten zu Familie und Abtreibung haben Sie vermutlich keine Mehrheit in der Bundes-CDU. Die neue Partei „Alternative für Deutschland“ steht auch für Familienförderung. Laut Analysen sollen viele ihrer bereits 11.500 Mitglieder einst in der CDU gewesen sein. Sehen Sie hier eine Konkurrenz?

Lieberknecht: Es ist nicht meine Aufgabe, diese Initiative zu erklären. Und ich halte nichts davon, so etwas zu früh zu bewerten. Ich trete für die christlich-demokratische Politik der CDU ein und gestalte diese aktiv mit.

Ab in die Mitte!

idea: Ein ganz anderes Thema: Jahrelang haben die ost- und mitteldeutschen Länder unter Abwanderung gelitten. Mittlerweile gibt es eine Trendumkehr: Zumindest schon nach Sachsen ziehen wieder mehr hin als weg. Warum sollte man eigentlich in Thüringen leben?

Lieberknecht: Zunächst: Thüringen liegt nicht im Osten, sondern in der geografischen Mitte Deutschlands. Und Sie können die deutsche Geistes- und Kulturgeschichte nicht verstehen, ohne ständig auf unseren Freistaat Bezug zu nehmen. Erfurt und Eisenach sind Hauptstädte der Reformation, die Goethe- und Schillerstadt Weimar ist die Stadt der klassischen Literatur überhaupt, Jena eine international renommierte Universitäts- und Wissenschaftsstadt. Unser Bundesland hat die geringste Arbeitslosenzahl in den neuen Ländern – teilweise gleichauf mit Nordrhein-Westfalen.

Die Entwicklung der letzten 23 Jahre kann man deshalb nur als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Ich kann jeden nur einladen, unser Land zu besuchen und hier zu bleiben. Mit dem Reformationsjubiläum steht in vier Jahren ein Weltereignis bevor, in dem neben Sachsen-Anhalt auch Thüringen im Mittelpunkt stehen wird. Die größte Werbeaktion für Thüringen ist übrigens durch Papst Benedikt XVI. erfolgt. Wir haben in den weltweiten Medien während des Papstbesuches in Erfurt und im Eichsfeld vor zwei Jahren eine Milliarde Kontakte generiert.

Die „ungläubigste Region“ der Welt?

idea: Laut einer Analyse der „Welt am Sonntag“ soll aber doch die ehemalige DDR „die ungläubigste Region der Welt“ sein. Gehen da nicht Papst und Luther am Empfinden vieler Bürger völlig vorbei?

Lieberknecht: Was die Zahl der Gottesdienstbesucher und der Kirchenmitglieder anbetrifft, ist die Lage tatsächlich bescheiden. Aber ich schaue in die Gesichter der Menschen, und sie sagen mir etwas anderes. Ich habe in meiner Zeit als Pastorin immer die Erfahrung gemacht: Wenn ich Menschen anspreche, dann entdecke ich, dass sie sich für Religion interessieren. Ein Beispiel dafür ist die große Zahl von Fördervereinen in der ehemaligen DDR für die Renovierung von Kirchen. Menschen, die bisher nichts mit Kirche und Glauben zu tun hatten, aber in ein Dorf gezogen sind, sagen: Die Kirche ist das Wahrzeichen unseres Dorfes, und das darf nicht verlottern, also engagiere ich mich hier. Wenn Christen dies als Chance begreifen und dann auch mit ihren Mitbürgern über ihren Glauben reden, dann kann Kirchenbau zur Basis von Gemeindebau werden. Wer da mit einer ganz normalen Alltagssprache von Gott redet, wird erleben, dass er auf Interesse stößt.

Mein geistliches Leben

idea: Haben Sie eigentlich noch Zeit für ein Leben mit Gott?

Lieberknecht: Ich könnte keine Politik ohne geistliches Leben betreiben. Es ist die Voraussetzung für mein Handeln. Mein Tag beginnt nicht mit meinem politischen Terminkalender, sondern mit den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine, und darauf baut sich alles auf. Entsprechend versuche ich, die daraus folgenden Werte zu leben: Vertrauen zu allen Menschen zu haben und ihnen verlässlich zu begegnen. Das hat ganz konkret dazu geführt, dass es eine Koalition von CDU und SPD in Thüringen unter meiner Leitung gibt, denn es hätte auch eine Mehrheit für SPD, Grüne und Linke gegeben. Dass die SPD sich trotzdem für Lieberknecht und damit für die CDU entschieden hat, ist nicht selbstverständlich.

idea: Wir danken für das Gespräch.

Foto: © www.christine-lieberknecht.de


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