Wie ich dem Christkind den Kopf abbiss

23. Dezember 2012 in Kommentar


Glaube muss, wie die Liebe und alles Lebendige, wachsen können, sonst taugt er nichts. Am besten fängt er deshalb so klein wie möglich an: in der Kinderstube. Auch wenn es zu Kollateralschäden kommt. Von Paul Badde


Schaag (kath.net/Welt) Natürlich wollte ich dem Christkind den Kopf nicht abbeißen. Aber es war das erste Weihnachten, an das ich mich erinnere, und ich höre meine Brüder jetzt noch lachen, als ich ihn wieder ausspuckte. Denn er war aus Stearin und nicht aus Marzipan, egal, wie unwiderstehlich rosa es aussah. Zum Anbeißen süß.

Kein Wunder, dass ich es mir in dem weihnachtlichen Zimmer verträumt in den Mund schob, wo alles nach Leckereien duftete. Nach Nüssen, Orangen, Schokolade und Eierlikör und Printen und Spekulatius.

Von dem Tag an feierte das Christkind jedenfalls jedes Jahr mit einer schweren Halswunde mit uns zusammen Weihnachten. Mein Vater hatte das Köpfchen wieder notdürftig angeklebt.

Karton mit Strohdach

Die Krippe war keine architektonische Meisterleistung. Mit den Wunderwerken aus Neapel, die ich heute kenne, hatte sie nichts zu tun. Unsere Krippe war ein verbeulter Karton aus der Vorkriegszeit, mit einem Strohdach, für das meine Brüder aus dem Winterwald viel zu viel frisches Moos geholt hatten, in dem das Weihnachtsgeschehen der Geburt Christi dann fast versank: die angeschlagenen Gipsfiguren Marias und Josefs und der Hirten, plus Ochs und Esel und diverser Schafe.

Ein Engel saß auf dem Dach. Dass das Christkind die Hauptperson war, ließ sich von einem Blinden erkennen. Alle Figuren waren auf den Säugling hin geordnet wie Eisenspäne um einen Magneten.

Hausverbot für den Weihnachtsmann

Dass der Kleine Gott war, wusste ich von meiner Mutter. Unter dem Weihnachtsbaum verkörperte er die Schnittmenge zum Himmel in unserer Stube, unter den spiegelnden Glaskugeln und knisternden Wunderkerzen, mit deren Abbrennen nach dem Singen der Weihnachtslieder das Verteilen der Geschenke eingeleitet wurde, die alle auf das Konto des göttlichen Kindes gingen.

Der Weihnachtsmann hatte bei uns Hausverbot. Weihnachten war kein Kasperl-Theater. Da war mein Vater vor.

Warten bis es bimmelt

Weihnachten war die Verwandlung der Welt. Darum kam das Fest am Schluss auch immer so plötzlich wie eine Geburt in unser Haus und nicht allmählich, trotz der langen Vorbereitung in der Adventszeit. Plötzlich war am Heiligabend jemand unter uns, der vorher nicht da war, wie bei einer Hausgeburt.

Das zauberten meine Eltern Jahr für Jahr neu. Da lagen nicht Tage vorher schon Geschenke herum, auch kein Christbaumschmuck oder gar der Baum. Am Nachmittag mussten wir Kinder uns in die Mansardenzimmer verziehen, wo wir badeten, unsere Sonntagssachen anzogen und angespannt in der fallenden Dämmerung warteten, bis das Bimmeln einer kleinen Glocke uns zu unserer Wohnung im ersten Stock hinunter rief.

Die Treppe war stockdunkel. Ich tastete nach der Hand meines ältesten Bruders. Stille Nacht. Mein Vater öffnete die Wohnungstür. Heilige Nacht!

Die Haustür war das Tor zum Paradies

Mitten im Winter war die vertraute Tür plötzlich ein Tor zum Paradies geworden. Unser Zuhause in Licht getaucht. Unser ganzes Dasein verwandelt. Das Licht war nicht laut, es war leise. Kein Neon, keine Scheinwerfer. Es waren flackernden Kerzen vor den Eisblumen am Fenster zum Hof, vom Baum in der Ecke, der sein Leuchten über die Geburt Christi in der Krippe darunter ergoss.

Das Licht der Welt habe ich, genau genommen, nicht unter dem hohen Himmel des Niederrheins erblickt, sondern in diesem leisen Licht der Christnacht. Meinen Glauben an die Menschwerdung Gottes verdanke ich nicht meinem Pfarrer, den Lehrern, dem Studium oder dem Papst. Den verdanke ich meinen Eltern.

Jahre später, nachdem mein Vater gestorben war, habe ich meine erste Serie von Entzauberungen erlebt. Das war nicht, als mein Vater starb. Der war ja zum lieben Gott gegangen. Es fing damit an, als meine älteren Brüder meine Mutter bequatschten, dass wir elektrisches und kein Kerzenlicht mehr am Christbaum benötigten. Fortschritt. Sicherheit. Das ganze dumme Zeug.

Der Anfang vom Ende

Es war der Anfang vom Ende, bis sie schließlich an einem Nachmittag des 24. Dezember meinten, ich solle mich nicht so anstellen und gefälligst den Baum mit schmücken und das Fest mit vorbereiten. Ich solle nicht so tun, als wüsste ich nicht, welche Heidenarbeit das Ganze sei. Am gleichen Abend zog ich mein Holzfällerhemd und die Bergschuhe zur Bescherung an – und danach war es aus mit Weihnachten, das ich von da an bald am liebsten in einem D-Zug und unterwegs verbrachte.

Weihnachten war in dieser Zeit für mich das Anti-Fest – bis wir schließlich selber Kinder hatten, die Fragen stellten, von denen wir nicht sagen konnten, dass wir nie eine Antwort darauf bekommen hätten. Doch es gab keine Taste zur Systemwiederherstellung, und natürlich mussten wir uns dabei auch alles selbst ganz neu erklären.

Klar, ein Weihnachtsbaum kommt im Evangelium nicht vor, so wenig wie Ochs und Esel, aber doch in der Bibel, in der Wüste, als Busch, der brennt und nicht verbrennt, als Bild Gottes, der von sich sagt: Ich bin hier für euch! Als Wort, das das Erwachsenendasein plötzlich wieder mit der Kindheit verband.

Kinder glauben noch an Wunder

Und jetzt liegt der Ball bei unseren Kindern, unseren Enkeln neu von Weihnachten und vom lieben Gott zu erzählen, in schwierigeren Zeiten für Ehen und Familien. Doch Glaube muss, wie die Liebe und alles Lebendige, wachsen können, sonst taugt er nichts.

Am besten fängt er deshalb so klein wie möglich an. Denn nur Kinder haben ja den nötigen Realismus, ohne Weiteres an Wunder glauben zu können, wie unsere Enkelin Sarafina, die noch weiß, dass Gegenstände nachts lebendig werden und die Blumen miteinander sprechen und die Bücher in ihren Regalen mit ihren Geschichten tanzen.

Was der Kinderglaube uns lehrt

Kinderglauben ist nichts Kleines; von Lehrern kann er nicht vermittelt werden. Lehrer kommen dafür zu spät. Das größte Weihnachtsgeschenk meines Lebens waren jedenfalls Eltern, die mir von früh an glaubhaft von einer Welt zu erzählen wussten, wo Himmel und Erde nicht getrennt sind und Engel auf Leitern hinab- und heraufsteigen.

Wo Gott nackt in die Welt kommt und winzig und schielend – und nicht auf einem Donnerschlitten mit Porsche-Motor, wie Erwachsene ihn sich ausdenken würden. So kindisch ist Kinderglaube nie. Der Wesenskern der heiligen Nacht, dass Gott Mensch geworden ist, in Bethlehem geboren wurde und in die Windeln machte, der lässt sich wohl, wenn überhaupt, nur von einem Kind begreifen, als einen Glauben zum Reinbeißen. An einen Gott zum Einverleiben!



© 2012 www.kath.net