Kirche wurde von einer Säkularisierungswelle überflutet

15. Dezember 2012 in Kommentar


Seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts liebäugelte die Kirche mit der Welt und seither erstarrte das religiöse Leben in den Gemeinden. Das Zweite Vatikanische Konzil – Eine Bestandsaufnahme, Teil 4. Von Prof. Joseph Schumacher


Freiburg (kath.net) Nicht zu Unrecht schreibt der Journalist Alexander Kissler, das Konzil habe keineswegs jene „Reformrhetorik“ legitimiert, wie sie heute von Hans Küng und Alois Glück und der Gruppe „Wir sind Kirche“ verwendet werde. Es habe nirgendwo ermuntert, am Zölibat zu rütteln, es habe ihn vielmehr ausdrücklich bekräftigt, auch habe es die „höchste Gewalt“ des Papstes festgeschrieben. Nirgendwo habe das Konzil einen Spalt geöffnet, um Diakonat und Priestertum der Frau einzuführen oder die Kirche in einem Weltethos aufgehen zu lassen. Es sei durch und durch katholisch gewesen und es habe ausdrücklich festgestellt, dass die „Reinheit der katholischen Lehre“ niemals Schaden leiden dürfe. Auch habe das Konzil ausdrücklich gesagt, dass der, der die katholische Kirche kenne und nicht in sie eintrete, „nicht gerettet werden“ könne. Das Konzil habe ferner nicht das Latein aus dem Gottesdienst vertreiben wollen, es habe nicht dazu aufgerufen, die Altäre umzudrehen und die Kirchen leer zu räumen und die Heilige Messe als „Gemeindefrühstück“ zu betrachten. Stattdessen habe es sich zum Lateinischen als der klassischen Kultsprache bekannt, die in der Intention des Konzils lediglich hier und da um die Landessprachen hätte angereichert werden sollen. Das Konzil habe keineswegs den Glauben in das Belieben des subjektiven Gewissens gestellt. Vielmehr habe es gefordert, „dem authentischen Lehramt des Bischofs von Rom“ Gehorsam zu leisten, „auch wenn er nicht kraft höchster Lehrautorität“ spreche, und Priester, die mit dem Verweis auf das Konzil zu Ungehorsam aufriefen, würden die Texte des Konzils nicht kennen. Endlich habe das Konzil keineswegs die Grenzen zwischen Priestern und Laien nivelliert, vielmehr habe es ausdrücklich die „Verschiedenheit des Dienstes“ bekräftigt [Alexander Kissler, Was das Konzil wirklich wollte: Focus-Online vom 4. Oktober 2012].

Dem sekundiert Kardinal Kasper, wenn er am 29. September 2012 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schreibt: „Das Konzil hat nicht einen Übergang zu einer liberal angepassten Kirche eingeleitet, sondern zu einer aus ihren Wurzeln geistlich erneuerten und zugleich dialogoffenen, für das Heil der Menschen engagierten Kirche“. Er fügt dem hinzu, die gegenwärtige Situation fordere von den Vertretern der Kirche vor allem, dass sie von Gott sprächen.

Es ist unverkennbar, dass nach dem II. Vatikanischen Konzil eine Welle der Säkularisierung die Kirche überflutet hat. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Säkularisierungswelle auch ohne das Konzil der Kirche nicht erspart geblieben wäre, denn Negativentwicklungen gab es schon vor dem Konzil. Aber ohne das Konzil wäre die Entwicklung vielleicht weniger dramatisch verlaufen. Einen gewissen Beitrag zu dieser Entwicklung hat das Konzil möglicherweise dadurch geleistet, dass es zu optimistisch war im Hinblick auf die Glaubensbereitschaft der Menschen in unserer säkularen Welt. Vielleicht hat es auch zu sehr auf die äußeren Formen gesetzt. Auch hätte es vielleicht die Kontinuität der Glaubensentfaltung deutlicher herausstellen müssen. Mit Sicherheit gilt das für die nachkonziliare Kirche. Für einzelne Negativentwicklungen kann man das Konzil sicherlich verantwortlich machen, das Konzil und dessen nachkonziliare Interpreten, aber beileibe nicht für alle.

Zusammen mit der Säkularisierung setzte seit dem Ende des Konzils ein erschreckender Niedergang des kirchlichen Lebens ein. Auch ihn kann man nicht monokausal auf das Konzil zurückführen. Post hoc bedeutet nicht immer propter hoc. Möglicherweise wäre der Niedergang, wenn es das Konzil nicht gegeben hätte, noch eklatanter gewesen. Sicher ist, dass er schon vor dem Konzil zu erkennen war. Formal war das Allermeiste damals zwar noch fest gefügt, aber die Inhalte stimmten in nicht wenigen Fällen nicht mehr. Auch liturgische Willkürlichkeiten von Priestern konnte man schon Jahre vor dem Konzil konstatieren. Und gegen den Zölibat wurde schon in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts agitiert. Auch vor dem Konzil gab es moralische Exzesse bei Priestern und zynische Bemerkungen über die Kirche und ihren Glauben, vor allem wurde vieles Ernste veralbert. Schon lange vor dem Konzil gab es nicht wenige Priester, die dem eucharistischen Sakrament wenig Ehrfurcht entgegenbrachten und die das Bußsakrament nicht besonders ernst nahmen, als Empfänger oder als Spender des Sakramentes. In Ordnung war freilich noch die Theologie und ihre Darbietung in der Ausbildung der zukünftigen Priester, jedenfalls weithin, und der Zusammenhalt der Priester.

Die Verweltlichung der Kirche und der Verfall des kirchlichen Lebens, wie sie nach dem Konzil hervortraten, haben sich in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem steigenden Wohlstand entwickelt. Seither liebäugelte die Kirche in wachsendem Maß mit der Welt und seither erstarrte das religiöse Leben in den Gemeinden. Das Konzil wandte sich dagegen, es wollte einen neuen Pfingststurm herbeiführen. Das ist ihm jedoch nicht gelungen, der Pfingststurm ist sichtlich ausgeblieben.

Papst Paul VI. (+ 1978) charakterisiert diese Situation, wenn er in einer Rede am 7. Dezember 1968 von der „Selbstzerstörung der Kirche“ spricht, und wenn er am 26. Juni 1972 in einer Ansprache erklärt: „Der Rauch Satans ist durch irgendeinen Riss in den Tempel Gottes ein-gedrungen“. Demgemäß spricht Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben „Ecclesia in Europa“ vom 28. Juni 2003 von der „lautlosen Apostasie der Massen“ [Nr. 9: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 161, S. 15], und Papst Benedikt XVI. fügt dem realistisch hinzu: „ … in vielen Teilen der Welt droht der Glaube zu erlöschen“ [Brief an die Bischöfe vom 10. März 2009: www.vatican.va].

Um Papst Johannes Paul II. noch einmal in diesem Zusammenhang zu zitieren. Er stellt am 6. Februar 1981 in einer Ansprache an Volksmissionare fest: „Man muss mit tiefer, schmerzlicher Betroffenheit feststellen, dass die Gläubigen sich heute zum großen Teil verloren und verwirrt vorkommen, ratlos und sogar hintergangen - weiter, dass mit vollen Händen Ideen ausgestreut wurden, die mit der geoffenbarten und zu allen Zeiten gelehrten Wahrheit im Widerspruch stehen, dass auf dogmatischem und moralischem Feld wirkliche und eigentliche Häresien verbreitet wurden, die Zweifel, Durcheinander und Auflehnung zur Folge hatten“ [www.vatican.va]. Viele Gläubige kommen sich hintergangen vor. Das ist eine nüchterne Bilanz aus päpstlichem Mund.

Überall werden heute Ordenshäuser und Kirchen, Pfarrhäuser und Gemeindezentren verkauft oder dem Erdboden gleich gemacht. 40 000 Priester haben ihr Amt aufgegeben, 40 000 von 400 000. Und unzählige Priester haben ihre Identität verloren. Ähnliches gilt für die Orden, die männlichen wie die weiblichen. Im einen wie im anderen Fall stagniert der Nachwuchs beinahe vollständig. In 20 Jahren beläuft sich in Deutschland laut einer Notiz des Osservatore Romano im Jahre 2010 der Rückgang der Zahl der Kirchenbesucher von 6 Millionen auf 3,4 Millionen [L´Osservatore Romano vom 30. 12. 2010]. Wie die Zeitung feststellt, ist die Zahl der Abonnenten der Diözesanzeitungen in Deutschland in dieser Zeit von 1, 5 Millionen auf 750 000 zurückgegangen, während die Zahl der Abonnenten von Missionszeitschriften um 91 % zurückgegangen ist. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 18. Oktober 2010 berichtet, ermittelte das Allensbach-Institut im Jahre 2010, dass 49 % der unter Dreißigjährigen den christlichen Glauben nur noch für wenig zeitgemäß und im Grunde für überholt halten und dass bei den Sechzigjährigen und Älteren immer noch 27 % diese Meinung vertreten.

Die Seelsorge liegt vielfach im Argen. Was in den Gemeinden floriert, das ist in der Regel das Feiern. Die Priester lassen sich verehren und kommen dafür den Leuten entgegen, indem sie sich gemein machen und mit allen solidarisieren und sie nicht fordern. Der Personenkult blüht, wo der Glaube stagniert. Der entscheidende Ausweis für eine nicht geringe Zahl von Priestern ist der, dass alle sie mögen. Die Devise lautet „offen und herzlich“. Sehr häufig sind in den Gemeinden Abschiedsfeiern und Einführungsfeiern. Wo immer über die Inhalte der Verkündigung berichtet wird in den Zeitungen, da könnten diese genau so von evangelischen Pastoren oder gar von säkularen Festrednern vorgetragen worden sein. Das genuin Katholische wird in der Verkündigung aufs Äußerste vernachlässigt. Auch hat man den Eindruck, dass das „offen“ und „ehrlich“ weithin gespielt ist, derweil die Akteure in Wirklichkeit im Kerker einer grenzenlosen Selbstverliebtheit eingemauert sind. Die „pastoralen Teams“ missbrauchen vielfach ihre Stellung, säen Zwietracht, demoralisieren die Priester und stellen sich als 5. Kolonne der „Kirche von unten“ dar. Dabei agitieren sie nicht selten gegen den Papst und das Papsttum der Kirche und machen sich dabei gar zu Protagonisten einer Nationalkirche. Viele Priester, aber auch viele Theologen und Kirchenfunktionäre sind im Grunde geniale Schauspieler. Was den Priestern vor allem fremd ist, das ist die geistliche Dimension, umso mehr suchen sie, je nach Situation, durch Hochmut und Stolz zu glänzen.

Ich erlebte es in meinem näheren Umfeld, dass in einem theologischen Kurs in einer Gemeinde der Glaube der Kirche buchstäblich auf den Kopf gestellt wurde. Da blieb fast nichts mehr übrig vom Apostolischen Glaubensbekenntnis, und was übrig blieb, das wurde dann noch einmal dem Subjektivismus des Einzelnen überantwortet. Ein Großteil der Glaubenswahrheiten wurde belächelt und in das Belieben des Einzelnen gestellt. Auf die Frage eines Kursteilnehmers, ob denn auch evangelische Christen die heilige Kommunion empfangen könnten, lautete die Antwort: Jeder muss das für sich entscheiden, ob er die Kommunion will. Mit Augenzwinkern wurde, wenn von der Eucharistie die Rede war, etwa erklärt: Die offizielle Lehre der Kirche ist die, dass in der Wandlung eine Wesensverwandlung erfolgt. Da bot sich dann die gedankliche Weiterführung bei den Zuhörern an: Wir aber wissen inzwischen, dass das Ganze nur symbolisch zu verstehen ist. Vom Besuch der Sonntagsmesse und vom Gebet war in diesem Kurs keine Rede, und man bemühte sich sichtlich, die Vergangenheit der Kirche schlecht zu machen und deren Frömmigkeitsformen zu diffamieren. So versuchte man von der eigenen religiösen Hohlheit abzulenken und die faktische Anarchie im Religiösen hochzustilisieren. Das Ganze war eher eine Parodie auf den Glauben der Kirche als eine seriöse Information.

Gegenüber solchen Erfahrungen ist die Kritik des Papstes Benedikt XVI. noch moderat, wenn er am 19. April 2008 in New York den Priestern Bischöfen und Ordensleuten erklärt: „Das Licht des Glaubens ist heute oft getrübt durch Routine oder durch die Sünden und Schwächen jener, die der Kirche angehören“ [www.vatican.va].

- Fortsetzung folgt -

Professor Dr. Joseph Schumacher ist Priester der Diözese Münster, seit 1971 in der Erzdiözese Freiburg und im Hochschuldienst tätig. Vergl. kathpedia: Joseph Schumacher

kath.net-Lesetipp:
Glaubensverkündigung am Oberrhein
182 Ansprachen zu den Sonn- und Feiertagen der drei Lesejahre (2007-2010)
Joseph Schumacher
624 Seiten; 2012 Fromm Verlag
ISBN 978-3-8416-0334-0
Preis: 59.70 €

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Die vollständige kath.net-Serie von Prof. Schumacher:
Teil 1: Was wollte das II. Vatikanische Konzil?
Teil 2: ‚Allzu viele Vertreter der Kirche haben zwei Gesichter‘
Teil 3: ‚Die Kirche ist unsere Mutter. Das haben heute viele vergessen‘
Teil 4: Kirche wurde von einer Säkularisierungswelle überflutet
Teil 5: Dialogprozess statt Glaubensvertiefung
Teil 6: De facto haben sie nicht geschwiegen, diese Memorandums-Theologen!
Teil 7: Die Nachkonzilszeit hat viele faule Früchte hervorgebracht

Foto Prof. J. Schumacher: © kath.net


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