La Stampa und das Nest der Raben

5. Oktober 2012 in Weltkirche


Vor Gericht gibt der päpstliche Kammerdiener Gabriele freimütig Auskunft über gestohlene Papiere – das ist wohl auch seiner geringen Intelligenz geschuldet. Was da zu Tage tritt, ist abenteuerlich. Von Paul Badde / Die Welt


Vatikan-Stadt (kath.net/DieWelt) Als Kammerdiener war Paolo Gabriele (46) der verschwiegene Mann im Hintergrund des päpstlichen Haushalts, der stumm den Tee eingoss, die Koffer für die Reisen packte, vorne rechts im Auto saß, immer still.

Doch eigentlich ist er, wie nun vor Gericht offenbar wurde, eine ausgemachte Plaudertasche. Das wurde ihm noch mehr zum Verhängnis als das riesige Intelligenz- und Bildungsgefälle, das den ehemaligen Putzmann des Petersdoms vom intelligentesten und gebildetsten Mann des Vatikans und anderen Mitarbeitern des Papstes trennte. Dies machte den Geheimnisträger zu einer höchst willkommenen Quelle auf zwei Beinen für jeden, der ihm in die Arme lief – und umgekehrt.

Paolo Gabriele hatte also eine ganz und gar ordentliche Seite, die man seinem eleganten Anzug heute noch ebenso ansieht wie seiner tadellosen Frisur, und ein fast unvorstellbares Chaos in seiner Seele, wie der Inhalt des "riesigen Schrankes" offenbart, in dem er die Unmengen von Diebesgut verstaute, die er dem Papst wie ein Rabe über viele Jahre gestohlen und gesammelt hatte.

Eine Zeitbombe im Palast

So war er von Anfang an eine Zeitbombe im päpstlichen Palast, seit Monsignore Paolo Sardi ihn da hinauf empfohlen hat.

Ingrid Stampa hingegen, die ehemalige Papstvertraute, die seit Jahren behauptet, sie habe schon Joseph Ratzinger und erst recht Benedikt XVI. geschworen, niemals ein Interview zu geben, hat sich nun recht ausführlich im Mailänder "Corriere della Sera" geäußert, nachdem Paolo Gabriele vor Gericht gestanden hat, dass sie selbst wie der heutige Kardinal Sardi zu seinen "Vertrauensleuten" im Vatikan zählte, die einen gewissen "Einfluss" auf ihn hatten.

"Komplizen" würde er sie zwar niemals nennen; dennoch habe er sich mit ihnen über die "allgemeine Atmosphäre" ausgetauscht. Jedenfalls zählten die beiden jetzt auch zu den ersten Namen, die er nannte, die in jenes bisher anonyme Netz von rund zwanzig Personen passen, von denen er noch im Januar sprach, als er im Fernsehen mit verdecktem Gesicht dem Journalisten Gianluigi Nuzzi Fragen zu eventuellen Hintermännern seines Geheimnisverrats beantwortete.

"Hätte er mit mir über das gesprochen, was er tat, hätte ich ihm gesagt, hör auf damit!" sagte Professoressa Stampa hingegen am Mittwoch. Im Vatikan wohnt sie im gleichen Haus zwei Etagen unter der Familie Gabriele, mit der sie gut bekannt ist.

"Einen anderen Weg"

"Vielleicht hätten wir einen anderen Weg gesucht. Über seine Sorgen hätte er doch mit dem Heiligen Vater sprechen können, vielleicht hätte auch ich das für ihn machen können. Aber so: nein!" Den Bericht "der Welt" (in dem am 15. Juli im Zusammenhang der Vatileaks-Affäre auch ihr Name erstmals gefallen war), der am Samstag auf Antrag der Verteidigung Gabrieles aus dem Konvolut der Prozessakten heraus genommen wurde, findet sie knapp drei Monate nach der Veröffentlichung "einfach nur lächerlich".

Das seien "alles Fantasien, Verleumdungen." Von Gabriele aber hofft sie, dass er sich und seine Motive noch einmal besser erklären könne. "Hätte er doch nur mit jemandem gesprochen, wäre all dies vielleicht nicht geschehen."

An zu wenig Gesprächen aber kann es gerade nicht gelegen haben, dass der untreue Kammerdiener das Vertrauen des Papstes so dramatisch gebrochen hat, wie er mittlerweile selbst zugibt und bedauert.

Am Dienstag hat er vor Gericht dargelegt, dass die drei Minuten Fußweg, die der 46jährige Familienvater nach Dienstschluss bis zu seiner Wohnung zurückzulegen hatte, schon manchmal bis in den Nachmittag dauerten, so sehr kam er hier mit diesem und jenem und wieder einem anderen Bekannten ins Gespräch.

Obsessives Verhalten nicht ausgeschlossen

In seinen Verhören habe er ja schon eine Reihe von Namen genannt. Er habe mit einer "enormen Zahl von Personen" gesprochen, von denen er jetzt nur Kardinal Paolo Sardi, Cardinal Angelo Comastri, Bischof Franceco Carina und Professoressa Ingrid Stampa nannte. Glaubt sie nach ihrer Kenntnis Gabrieles denn, dass er vielleicht gesteuert worden sei?

Da könne sie nur sagen, dass er ein Mann sei, "der es liebte, viel und allein zu studieren", der das ganze Material wohl "gesammelt" habe, um sich ein "Bild der Situation" zu machen. Auch eine gewisse Obsession in seinem Verhalten würde sie ausschließen. "Er ist eine Person, die viel und gut überlegt und beobachtet. Er bewertet die Dinge."

Diese Einschätzung der Nachbarin Gabrieles und ehemaligen Vertrauten des Papstes (der nach einem Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 25. Juli inzwischen allerdings der Schlüssel zum Aufzug entzogen wurde, mit dem sie in den letzten Jahren immer ungehindert in das päpstliche Wohnung kommen konnte) kontrastiert auch darin streng mit den Aussagen der Polizisten, die am Mittwoch die Hausdurchsuchung schilderten, in der am 23. Mai von 3 Uhr nachmittags bis um 11 Uhr abends in 8 Stunden 82 Kisten mit Unterlagen aus der Wohnung Paolo Gabrieles sichergestellt und herausgetragen wurden.

In dieser Unmenge von Material befanden sich wild durcheinander gemischt auch viele hunderte von Papieren aus dem Päpstlichen Palast, entweder als Kopie, oder im Original (manche mit dem handschriftlichen Vermerk auf deutsch "Vernichten!").

Die Zeit war viel zu kurz

Vier Polizisten berichteten von dem Vorgang, bei dem sie auch einen PC sicherstellten, "zwei oder drei Laptops", zahllose USB-Sticks (die jeweils Unmengen von Daten speichern können), zwei Festplatten, verschiedene Speicherchips, eine Playstation und ein iPad.

Theoretisch können diese Speichermedien außer Texten auch Bilder und Audio-Aufnahmen enthalten. In der Vernehmung kam nicht zur Sprache, ob diese Datenspeicher schon alle ausgewertet werden konnten. Doch eigentlich war die Zeit nach der Festnahme Gabrieles dafür bis heute noch viel zu kurz.

Die Dokumente und Materialien in seiner Wohnung überstiegen jedenfalls bei weitem die Menge, die Gianluigi Nuzzi in seinem Bestseller verwandte, den er aus dem Diebesgut fabrizierte, das ihm von Gabriele zugespielt wurde, und die Frage kam noch gar nicht ernsthaft auf, ob Gabriele diese Dokumente nicht möglicherweise auch mit anderen geteilt hatte.

Das scheint auch die Polizei des Vatikans noch nicht zu wissen. "Seht ihr, wie gern ich lese?" hatte Gabriele die Beamten bei der Durchsuchung gefragt. "Seht ihr, wie gern ich studiere? Schade, dass ich euch noch so spät beschäftige."

Merkwürdiges 007-Archiv

Die Turiner "La Stampa" schrieb danach von einem "merkwürdigen 007-Archiv" in seiner Wohnung, das im Geheimdienststil neben den verbotenen Dokumenten aus dem Papstpalast, einem Scheck über 100.000 Euro, einem Goldnugget und einem wertvollen Codex, "Briefe von Politikern, Korrespondenzen zwischen dem Papst und Kardinälen und zahllosen Dokumente über die Freimaurerei und verschiedene Logen und Geheimdienste versammelte, dazu Ausdrucke "über das Christentum und Yoga, Yoga und Buddhismus oder Untersuchungen "wie sich jpg- und Wort-Dateien verbergen und wie sich Videos erstellen ließen oder wie man auf verdeckte Weise ein Handy benutzen kann".

Darum entschied die Polizei, kurzerhand das ganze Material aus dem Haus heraus zu schaffen – plus zwei Lederkoffern und zwei gelben Plastiktaschen voller Briefe. Insgesamt umfasste dieses Archiv "Hunderttausende" von Dokumenten.

Die schiere Menge des Materials war so überwältigend groß, dass Gabrieles Anwältin Cristiana Arru nach der Gerichtssitzung darauf hinwies, dass sie dem Gericht mit ihren Nachfragen habe zeigen wollen, dass es ihrer Ansicht nach einfach technisch unmöglich gewesen sei, eine solche Menge von Material in der Wohnung Gabrieles aufzubewahren.

Ähnliche Fragen stellen sich auch andere Beobachter. Wie konnte es möglich sein, dass seine Frau nichts merkte? Und keiner seiner Besucher? Dass seine Frau nicht einmal einen Blick auf die Papierberge warf? Und dass sie sich nicht über die Vielzahl der USB-Sticks und Memory-Cards wunderte und was sie zu seinen "Studien" sagte? Es sind Fragen über Fragen.

Eine ungeklärte Verbindung

Vollkommen ungeklärt blieb im Prozess bisher vor allem aber auch, wie die Verbindung Gabrieles mit Gianlugi Nuzzi zustande kam, dem in Rom seit den Tagen Silvio Berlusconis mehr oder weniger offen Kontakte zum militärischen Geheimdienst nachgesagt werden.

Die Charakterisierung, dass Paolo Gabriele eine Person ist, "die viel und gut überlegt und beobachtet und die Dinge bewertet", scheint seinen Charakter und seine Handlungen bisher also nur auf eine eher wunderliche Weise zu erfassen. Tatsächlich war er der Mann, der zu jedem geheimem Material der privaten Wohnung des Papstes Zugang hatte.

Was Nuzzi in seinem Buch versammelt hat, sind Peanuts gegen das, was er in seine Wohnung schleppte. Je mehr sich der Prozess seinem Ende nähert, desto mehr wachsen die Widersprüche, die er ungelöst übrig lässt. Gut möglich, dass sein Ende der Beginn einer sehr viel dramatischeren und größeren Geschichte werden könnte.

Paul Badde - Die Welt - Juli 2012 - Cor hominis abyssus


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