Paolo Gabriele und der Heilige Geist

4. September 2012 in Aktuelles


Vatileaks und kein Ende. Die Motivationen eines Kammerdieners und die Unüberschaubarkeit eines Vorfalls. Ein interessantes Interview und ein Prozess. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „Seine Heiligkeit“ ist da! Nein, nicht vom Papst ist die Rede, wenigstens nicht direkt, sondern vom Buch des italienischen Journalisten Gianluigi Nuzzi, das seit Mai dieses Jahres die Gemüter in der Kirche und vor allem im Vatikan in Aufregung versetzt. Nun wurde der Band am gestrigen Montag in Berlin in einer deutschen Übersetzung vorgestellt, die Nuzzi mit einigen „länderspezifischen“ Dokumenten ergänzte. Diese beziehen sich vor allem auf den Weltbildskandal sowie auf die Geschehnisse aus dem Jahr 2009, als der Papst die Exkommunikation der vier Weihbischöfe der Priesterbruderschaft St. Pius X. zurückgenommen hatte und er im Vorfeld nicht über das Fernsehinterview des Holocaustleugners Williamson mit einem schwedischen Sender informiert worden war.

Wie schon an anderen Stellen gesagt wurde: das Nuzzi-Buch enthält im Prinzip nichts Neues. Es besticht durch etwas anderes: das, was an anderen Stellen – teilweise verstreut, teilweise systematisch – über diesen Pontifikat, über seine Schwierigkeiten und über die Art erzählt wurde, wie das Wirken Benedikts XVI. behindert oder gezielt boykottiert wurde oder wird, kann nun teilweise mit fotokopierten Dokumenten untermauert werden: mit Dokumenten, die direkt vom Schreibtisch des Papstes und seines Privatsekretärs gestohlen wurden. Kurz: was „man“ eigentlich immer schon wusste, steht nun auf festen Füßen. Es sei in diesem Zusammenhang vor allem an das wertvolle Buch von Paolo Rodari und Andrea Tornielli aus dem Jahr 2010 erinnert. Unter dem Titel „Attacco a Ratzinger“ („Angriff auf Ratzinger“) setzten sich die beiden Journalisten mit der damals fünfjährigen Geschichte eines Pontifikats ausgehend von einer Spannung auseinander, die sich zwischen der Größe Benedikts XVI., der oft unzulänglichen Tätigkeit seiner Mitarbeiter und den „Angriffen“ eines aggressiven Laizismus aufbaut. Der fe-Medienverlag (Kißleg) hat dieses Werk dann im Jahr 2011 als „Der Papst im Gegenwind“ einem deutschen Publikum zugänglich gemacht.

„Vatileaks“ hatte der Direktor des vatikanischen Presseamts, P. Federico Lombardi SJ, während des Spitzelskandals die Dokumentenflucht aus dem päpstlichen Appartamento in der dritten Loggia des Apostolischen Palastes getauft. Dieser Begriff fand somit Eingang in die Kirchengeschichte. „Vatileaks“ kam im Mai 2012 mit der Verhaftung des päpstlichen Kammerdieners Paolo Gabriele zu einem vorläufigen Höhepunkt. „Der Butler war es“ – die von Anfang an unglaubwürdige Einzeltätertheorie wurde propagiert, dies obwohl in denselben Tagen ein Informatiker des Vatikans zunächst verhaftet, nach einem Tag wieder freigelassen und dann vom Dienst suspendiert wurde. Doch erst am 13. August wurde dieses Faktum durch die Veröffentlichung der Anklageschrift und des folgenden Urteils des vatikanischen Richters bekannt. Gabriele blieb „Einzeltäter“, der Informatiker sei kein „Komplize“, hieß es, auch wenn er sich wegen der Straftat der Begünstigung – was immer dies auch heißen mag – vor Gericht verantworten muss.

Den Beginn der neuen Saison für die Sendung „L’Infedele“ des italienischen Senders „La7“, bei dem auch Gianluigi Nuzzi arbeitet, bildete am gestrigen Montag Abend wieder „Vatileaks“ – mit einem besonderen und eindrucksvollen „Schmankerl“. Bereits am 23. Februar 2012 hatte „La7“ ein Interview mit einem der „Raben“ im Vatikan gebracht. Während der Verhöre hatte Gabriele dann zugegeben, dass er dieser „Rabe“ gewesen ist, der sich damals vermummt von Nuzzi interviewen ließ. Nun wurde das Interview ohne Stimmverzerrung und in voller Länge ausgestrahlt. Der Sender „outete“ damit ebensowenig wie Nuzzi eine „Quelle“, wie fälschlich und in völlig unkorrekter Weise gesagt wurde.

Die Stimme des „Raben“ mit römischem Einschlag, die der Papst tagtäglich gehört hat, die Stimme eines Mannes, der für Benedikt XVI. wie ein Sohn war – lässt schwer unberührt.

Gabriele, der sich gegenüber den vatikanischen Anwälten als „Infiltrierter des Heiligen Geistes“ bezeichnete, hatte sich gemäß den in der Anklageschrift zitierten Verhörprotokollen noch darüber beschwert, dass das Interview im Februar nicht in voller Länge ausgestrahlt worden war. So seien die tiefen Beweggründe seines Handelns nicht ausreichend erkennbar geworden. Mittelpunkt dieser Beweggründe ist für Gabriele: der Heilige Geist, der ihn geführt habe. So beschrieb sich Gabriele in seinem Interview als Wohltäter der Kirche, dem es um eine Verbesserung der Lage der Kirche gegangen sei. Nie habe er der Kirche und ihrem obersten Hirten schaden wollen. Vielmehr habe er gesehen, wie auf verschiedenen Ebenen die Aufräum- und Säuberungsaktion des Papstes behindert werde und die Korruption vorherrsche. Neben ihm gebe es noch „so um die zwanzig Personen“, die nicht an Machtstrukturen gebunden seien, sondern sich „im Willen zur Reinigung ihres Leiters“, des Papstes, erkennen würden. Dieser Wille sei bereits in den berühmten Kreuzwegbetrachtungen Kardinal Ratzingers am Karfreitag 2005 deutlich geworden. Für Gabriele ist es klar, dass Benedikt XVI. bei diesem Reinigungsprozess auf Schwierigkeiten trifft: „Zeuge der Wahrheit zu sein bedeutet die Bereitschaft, den Preis dafür zu zahlen“.

Auch Wut spielte für Gabriele eine Rolle, eine Wut, die ihn zu seinem Handeln gebracht habe. Wut darüber, dass es Gummiwände gebe, die dafür sorgten, die Dinge nicht an den Tag kommen zu lassen, dies nicht aus Machtgründen, sondern aus Angst. „Unser Land ist ein Land (der Vatikan), in das man reingehen und ein Blutbad anrichten kann, um dann unbehelligt abzuhauen. Und 24 Stunden später darf keiner mehr was zu dem sagen, was passiert ist“, so Gabriele zum Mord am ehemaligen Kommandanten der Schweizergarde, Alois Estermann, am 4. Mai 1998. „Oder es verschwindet ein kleines Mädchen, und dreißig Jahre lang findet sich keiner, der etwas dazu sagt, was da geschehen ist“, so Gabriele zum „Fall Orlandi“, als die 15-jährige Vatikanbürgerin Emanuela 1983 entführt wurde. Die Mutter von Orlandi ist heute Nachbarin von Gabriele.

Einer der Anwälte Gabrieles legte in der vergangenen Woche aufgrund von Diskrepanzen hinsichtlich der künftigen Verteidigungsstrategie sein Mandat nieder. Erstaunlicherweise war es gerade die Verteidigung, die ab dem Moment der Verhaftung Gabrieles und während der Zeit der polizeilichen und richterlichen Untersuchungen und Verhöre die Einzeltätertheorie alternativlos vertrat und somit ihren Mandanten zum eigentlichen Sündenbock des ganzen Vorfalls machte.

Mit dem am 13. August veröffentlichten Urteil ist eine erste Phase der Ermittlungen abgeschlossen. Dieser werden, wie aus der Anklageschrift hervorgeht, weitere folgen. Der Prozess gegen Gabriele kann erst nach dem 20. September – nach den Gerichtsferien – aufgenommen werden. Es bleibt abzuwarten, wann die neue Verteidigung – und mit welchen Verzögerungen – für den Prozess bereit sein wird. Der Prozess wird öffentlich sein. Das Interesse der Medien – und nicht nur – ist vorprogrammiert.

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