Wann ist der Mensch tot?

18. Juli 2012 in Deutschland


In diesen Wochen erhalten alle Deutschen Post von ihren Krankenkassen: Jeder soll entscheiden, ob er – im Falle eines Hirntodes – zu einer Organspende bereit ist - Ein Streitgespräch über das heiße Thema


München (kath.net/idea)
In diesen Wochen erhalten alle Bürger Post von ihren Krankenkassen: Nach einem Beschluss des Bundestages soll jeder entscheiden, ob er – im Falle eines Hirntodes – zu einer Organspende bereit ist. Soll man nun zustimmen?

idea bat Experten zum Streitgespräch: den Medizinischen Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation, Günter Kirste, und den Medizinrechtler und Kritiker der Hirntodtheorie, Rainer Beckmann. Das Gespräch moderierte Karsten Huhn.

idea: Herr Beckmann, Herr Kirste: Dem Menschen darf ein Organ entnommen werden, wenn sein Gehirn tot ist. Wann ist der ganze Mensch tot?

Rainer Beckmann: Der Mensch ist tot, wenn alle wesentlichen Organe ihre Funktionsfähigkeit unwiederbringlich verloren haben. Der Organtod des Gehirns allein reicht in meinen Augen für die Todesfeststellung nicht aus.

Günter Kirste: Ich antworte als Mediziner und spreche von dem, was heute wissenschaftliche Fakten sind: Der Hirntod ist als unumkehrbarer Funktionsausfall des gesamten Gehirnes der Tod des Menschen.

Beckmann: Bei der Frage nach dem Tod sollten wir uns vergewissern, welches Menschenbild wir haben. Auf die Frage „Was ist der Mensch?“ gibt es zwei grundlegende Antworten: ein materialistisches Menschenbild, das nur die biologische Substanz des Menschen betrachtet; und ein personales Menschenbild, das die geistige Seite des Menschen – seine Seele – berücksichtigt. Auch in einer Broschüre der Deutschen Stiftung Organtransplantation zum Hirntod heißt es, beim Hirntod sei die Grundlage des Menschen als „körperlich-geistige Einheit“ zerstört.

Kirste: Als Mediziner bin ich aufgefordert, medizinische Fakten zu ermitteln. Wenn zum Beispiel ein Patient aus Sorge, zuckerkrank zu sein, zum Arzt kommt, wird der Arzt entsprechende Tests durchführen und danach eine Diagnose stellen. Vom Verfahren her ist das ähnlich bei der Hirntoddiagnostik – mit dem Unterschied, dass die Abläufe hier doppelt abgesichert und genau festgeschrieben sind. Zwei Ärzte führen jeweils unabhängig voneinander in ‚zeitlichem Abstand die Untersuchungen nach einem festgelegten Protokoll durch. Die Ergebnisse werden genau dokumentiert. Damit gehört die Hirntoddiagnostik zu einer der sichersten Diagnosen der Medizin überhaupt.

idea: Der Hirntod ist genauso einfach zu diagnostizieren wie Diabetes?

Kirste: Das Verfahren ist aufwendiger, aber das Prinzip ist dasselbe: Ich ermittle die medizinischen Fakten, komme dann zu einem Ergebnis und ziehe die Konsequenzen, die im Übrigen auch die Basis für die juristischen Festlegungen sind. Man kann natürlich darüber diskutieren, ob das von theologischer Seite anders zu beurteilen ist. Dann kommen Begriffe wie „Seele“ und „personales Menschenbild“ in die Argumentation hinein. Diese Begriffe kommen aber aus einem ganz anderen Gedankenkreis und haben mit den medizinischen Fakten nichts zu tun. Sie müssen deswegen nicht falsch sein – sie haben aber mit der Feststellung des Hirntodes nichts zu tun.

Beckmann: Ich habe keine Zweifel daran, dass man den Hirntod feststellen kann. Ich bezweifle jedoch, dass der Hirntod das geeignete Kriterium für den Tod des Menschen ist. Ein als „hirntot“ erklärter Mensch auf der Intensivstation ist zu 95 % ein lebender Organismus – sonst könnten von ihm anschließend gar keine Organe entnommen werden. Der Mensch ist nicht tot, wenn lediglich sein Gehirn ausgefallen ist.

idea: Herr Kirste, ist der Mensch nach dem Hirntod noch zu 95 % lebendig?

Kirste: Natürlich nicht. Beim Hirntod ist er tot. Die Körperfunktionen werden lediglich durch Maschinen künstlich aufrechterhalten. Ich wüsste auch nicht, wo man die Seele nach dem Hirntod noch vermuten sollte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Seele in meiner Lunge, meinem Herzen oder meiner Niere sitzt. Sie ist Teil meiner Persönlichkeit – und diese manifestiert sich darin, dass ich zu Denkleistungen in der Lage bin, Eindrücke wahrnehmen und mich mitteilen kann. All das, was wir gemeinhin als Menschsein verstehen, ist nach dem Hirntod unwiederbringlich verloren.

Beckmann: Die Seele lässt sich materiell nicht feststellen – auch nicht im Gehirn. Die Seele steht in Beziehung zum Leib, ohne dass man sie an einem Ort festmachen kann. Deshalb kann man aus einzelnen Funktionsausfällen des Körpers auch nicht auf die Abwesenheit der Seele schließen.

Kirste: Keiner kann den Begriff „Seele“ präzise definieren. Dazu bin ich als Mediziner auch nicht gefragt. Fakt bleibt aber: Für die Existenz des Menschen ist die Leistungs- und Integrationsfähigkeit des Gehirns entscheidend. Nicht der Herztod ist der Tod des Menschen – denn das Herz ist wiederbelebbar. Das ist der große Unterschied zum

Beckmann: Ich bezweifle, dass man zum frühestmöglichen Zeitpunkt – dem Hirntod – schon vom Tod des Menschen sprechen kann, wenn der Sterbeprozess noch in vollem Gange ist. Denn auch wenn das Gehirn schon abgestorben ist, sind die anderen Organe noch lebensfähig. Am Anfang des Sterbeprozesses ist die Feststellung des Todes unsicher, erst am Ende ist sie „todsicher“. Und die sicheren Todeszeichen wie Leichenstarre, Leichenflecken und Verwesung sind bei der Feststellung des Hirntodes eben nicht vorhanden! Mit technischer Hilfe können heute Teilleistungen des Gehirns für den Organismus aufrechterhalten werden, vor allem die Steuerung der Atmung. Ein beatmeter Patient bleibt ein als Ganzes integrierter lebendiger Körper. Schwangere Frauen können in diesem Zustand in der Lage sein, ihr Kind auszutragen.

Kirste: Eine hirntote Frau – auch wenn sie noch ein Kind gebärt – lebt nicht mehr. Sie ist eine tote Person. Das emotional sehr beladene Beispiel der hirntoten Schwangeren ist nicht sehr hilfreich in unserer Diskussion. Es ist viel vernünftiger, über die Integrationsleistung des Gehirns nachzudenken. Wenn das Gehirn ausfällt, fehlt diese Integration und der Tod eines Menschen ist eingetreten – auch wenn wir mit maschinellen Maßnahmen die Beatmung und den Herz-Kreislauf und damit etwa auch die Funktion der Gebärmutter aufrechterhalten können.

idea Und dennoch ist der Mensch tot?

Kirste: Natürlich! Für die Feststellung des Hirntodes brauchen wir eine präzise Definition. Und dies ist mit der Feststellung des unumkehrbaren Todes des Gesamthirns gegeben.

Beckmann: Man kann nicht sagen: Ein Mensch mit einem Kunstherzen lebt, aber ein Mensch, bei dem einzelne Gehirnleistungen technisch ersetzt werden, ist tot. Technische Hilfe einmal im Sinne des Lebens und einmal als Ausdruck des Todes zu werten, wäre widersprüchlich.

Kirste: Mit dem Unterschied, dass ein Mensch mit einem Kunstherzen ein funktionierendes Gehirn, also auch ein Bewusstsein hat. Unser spezifisches Dasein entsteht erst durch die Leistung unseres Gehirns – und das kann eben nicht substituiert werden.

idea: Laut der Studie der Bonner Neurochirurgen C. Schaller und M. Kessler „Die Schwierigkeit von Neurochirurgen, Entscheidungen über das Lebensende zu treffen“ trotzten 2 von 113 Patienten, die als tödlich hirnverletzt eingestuft waren, ihrer Todesprognose und erholten sich wieder.

Kirste: Bei korrekter Hirntodfeststellung sind bisher keine Fehldiagnosen bekanntgeworden. In Deutschland ist das zu Recht sehr streng geregelt: Es muss der irreversible Gesamtausfall des Gehirns nachgewiesen werden.

idea: Herr Beckmann, Herr Kirste, haben Sie eigentlich einen Organspendeausweis?

Beckmann: Nein, weil ich den Hirntod nicht als Tod akzeptiere und mir das ganze System der Organspende zu undurchschaubar ist. Mir fehlt es an Aufklärung und Information über die Organspende, wobei nicht nur deren Befürworter zu Wort kommen sollten.
Kirste: Ja, ich habe einen Organspendeausweis – und das seit 40 Jahren. Im Übrigen bin ich der gleichen Meinung wie Herr Beckmann: Wir müssen die Menschen über die Organspende sehr gut informieren, damit sie sich entscheiden können. Allerdings erwarte ich von jemandem, der nicht zu einer Organspende bereit ist, dass er dann auch auf eine Transplantation zu seinen Gunsten verzichtet.

Beckmann: Dazu bin ich bereit.

Kirste: Das ehrt Sie sehr, nur lehrt die Erfahrung das Gegenteil. Umfragen zufolge erklären sich 74 % der Bevölkerung bereit, ein Organ zu spenden. Dagegen wollen 98 % der Menschen ein Organ erhalten, wenn sie bedürftig sind.

idea: Die tatsächlichen Spenderzahlen sind derzeit rückläufig.

Kirste: Vorsicht! In der Tat hatten wir im letzten Jahr bei den Spenderorganen einen leichten Rückgang, aber gegenüber 2004 hat die Zahl der gespendeten Organe um rund ein Viertel zugenommen.

Beckmann: Aber das Niveau bleibt insgesamt sehr niedrig. Der Bedarf ist wesentlich größer als die zur Verfügung stehenden Organe. Ihn decken zu können, halte ich für eine Illusion. Offensichtlich ist die Mehrheit der Bürger von der Argumentation der Organspende-Befürworter nicht überzeugt.

idea: Der holländischen Stiftung „Eurotransplant“ zufolge werden allein in Deutschland derzeit 8.000 Nieren, 1.000 Herzen, 2.000 Lebern, 500 Lungen und 50 Bauchspeicheldrüsen gesucht. Nur etwa 20 % dieser Nachfrage kann gedeckt werden.

Kirste: Ich halte es für deplatziert, die Frage nach dem Hirntod mit der Bedarfsdeckung zu verbinden. Beides hat nichts miteinander zu tun. Richtig ist, dass im Moment eine ganze Reihe von Menschen auf der Warteliste stehen. Auf eine Niere wartet man in Deutschland derzeit etwa sieben Jahre, in Spanien dagegen nur sechs Monate. Unser Ziel ist es deshalb, in Deutschland die Bereitschaft zur Organspende zu erhöhen.

Beckmann: Ich sehe zwischen der Frage nach dem Hirntod und der Bereitschaft zur Organspende schon einen Zusammenhang. Denn die Frage, ob ich dazu bereit bin, hängt wesentlich davon ab, ob ich den Hirntod für mich selbst oder für einen Angehörigen akzeptiere.

idea: Der Bundestag hat im Mai die sogenannte Entscheidungslösung beschlossen. Danach sollen die Deutschen alle zwei Jahre per Post danach gefragt werden, ob sie zur Organspende bereit sind. Wird sich die Spenderbereitschaft dadurch deutlich erhöhen?

Beckmann: Nein. Das Anschreiben der Krankenkassen wird in den meisten Fällen im Papierkorb landen.

Kirste: Die Krankenkassen konkurrieren hier mit vielen anderen Themen um die Aufmerksamkeit der Menschen. Nur wer sich genügend informiert fühlt, wird seine Entscheidung zur Organspende treffen. Es bleibt unser Ziel, die Menschen in allen Details der Organspende aufzuklären. Wie sich das neue Gesetz auf die Spenderbereitschaft auswirken wird, kann ich jedoch noch nicht einschätzen.

idea: Die Befürworter der Organspende haben Papst Benedikt XVI. auf ihrer Seite. Die Organspende sei eine „besondere Form der Nächstenliebe“, erklärte er 2008 bei einem Kongress in Rom.

Beckmann: Die Frage ist, ob er damit die Lebendspende – also die Entnahme beispielsweise einer Niere bei einem Lebenden, wie dies etwa SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier gemacht hat und gegen die auch ich nichts einzuwenden habe – oder die Spende nach dem Hirntod meinte. Denn in der Rede des Papstes gab es keine positive Würdigung des Hirntodkonzeptes. Stattdessen forderte er, lebenswichtige Organe dürften nur im Falle eines tatsächlichen Todes „ex cadavere“ – aus der Leiche – entnommen werden. Zugleich sagte der Papst, es dürfe nicht den geringsten Verdacht auf Willkür geben: „Wo noch keine Gewissheit erreicht ist, muss das Prinzip der Vorsicht walten.“

Kirste: Ich habe an dem Kongress in Rom teilgenommen und hatte danach ein längeres Gespräch mit dem Papst. Meines Erachtens hat der Papst etwas sehr Kluges getan: Er hat sich auf die theologische Argumentation beschränkt. Und aus theologischer Sicht ist die postmortale Organspende tatsächlich eine der höchsten Formen der Nächstenliebe. Gleichzeitig hat sich der Papst aus der Debatte über die medizinischen Kriterien herausgehalten und die Mediziner dazu aufgefordert, so präzise wie möglich zu sein.

idea: Ist es ein Mangel an Barmherzigkeit, wenn jemand, der seine Organe anderen Menschen zur Verfügung stellen könnte, dies nicht tut?

Beckmann: Nein, denn niemand hat den Anspruch auf die Organe eines anderen. Gegenwärtig ist immer von einer postmortalen (nach Eintritt des Todes) „Spende“ eines Organs die Rede. Diese Bezeichnung halte ich für irreführend, denn gleichzeitig behaupten die Befürworter der Organspende, der Organspender sei tot. Nach dieser Logik wäre es geradezu unsinnig, die brauchbaren Organe des Toten einfach zu verbuddeln, statt sie zu nutzen. Im Grunde muss man dann doch erwarten, dass jeder selbstverständlich seine Organe zur Verfügung stellt. Unter dieser Prämisse ist „Organspende“ geradezu eine Pflicht!

Kirste: Ich halte nichts von einer Pflicht zur Organspende. Menschen haben in dieser Frage unterschiedliche Ansichten. Ich akzeptiere es ohne weiteres, wenn jemand nicht zu einer Organspende bereit ist.

idea: In 93 % der Fälle liegt am Bett eines Hirntoten im Krankenhaus keine schriftliche Verfügung für oder gegen eine Organspende vor. Dann müssen dessen Angehörige unter hohem Zeitdruck eine Entscheidung treffen. Ist in einer solchen Situation eine durchdachte Entscheidung überhaupt möglich?

Beckmann: Ich fürchte nein. Die Angehörigen sind in aller Regel mit der Entscheidung überfordert, sie reagieren dann oft emotional.
Kirste: Die Angehörigen sind in einer sehr schwierigen emotionalen Situation – sie sollen sich in einer Ausnahmesituation der Trauer und des Schmerzes auch noch mit dem Thema Organspende auseinandersetzen und den mutmaßlichen Willen ihres Verstorbenen eruieren. Unsere Koordinatoren sind dazu ausgebildet, die Angehörigen zu unterstützen und zu einer stabilen Entscheidung zu begleiten – ohne Druck und moralische Wertung. Aber was wäre die Alternative dazu? Dann bräuchten wir die sogenannte Widerspruchslösung, bei der jeder Bundesbürger zur Organspende verpflichtet ist – es sei denn, er widerspricht schriftlich. Gegen diesen Weg hat sich der Deutsche Bundestag bewusst entschieden.

idea: Ich selbst habe noch keine Entscheidung zur Organspende getroffen. Mit welchen Argumenten wollen Sie mich überzeugen?

Beckmann: Bitte prüfen Sie die Voraussetzung der postmortalen Organspende: Nach meiner Einschätzung kann man nicht davon ausgehen, dass ein hirntoter Mensch wirklich tot ist. Zudem ist eine Organspende keine Bringschuld des Bürgers. Derzeit erleben wir statt Information teilweise Propaganda. Das gilt zum Beispiel für das Argument, täglich stürben drei Menschen, weil sie keine Organspende erhielten. Diese Menschen sterben aber nicht am Fehlen eines Spenderorgans, sondern an ihren Erkrankungen.

Kirste: 1. Es gibt genügend Argumente, die belegen, dass die Feststellung des Hirntodes eindeutig und klar ist. 2. Wir leben in einer Solidargemeinschaft und hoffen darauf, dass im Falle eines Unglückes andere Menschen für uns eintreten. Ich denke, dies sollte auch für die Frage einer Organspende gelten.

idea: Vielen Dank für das Gespräch!


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