Cor hominis abyssus

16. Juli 2012 in Aktuelles


Vatileaks: Das giftige Leiden der Eifersucht hat im Vatikan nun viele erreicht. Von Paul Badde / Die Welt


Rom (kath.net/DieWelt) Rom rumort. Alle Welt rätselt. Einer sitzt. Der ehemalige Kammerdiener des Papstes, Paolo Gabriele (46), bleibe noch einige Tage in Haft, gab Vatikansprecher Pater Federico Lombardi (69) am Donnerstag bekannt – nach Ablauf jener 50-Tage-Frist, die im Vatikanstaat für Untersuchungshaft gilt. Der Kammerdiener, sagte Lombardi, bleibe weiterhin der einzige Verdächtige. Komplizen seien nicht bekannt.

Pater Lombardi ist ein verlässlicher Ehrenmann. Was den justiziablen Teil des Falles angeht, in dem Gabriele über lange Zeit eine Unmenge vertraulicher Dokumente aus dem Haus des Papstes kopiert und in verschiedene Hände weiter gegeben hat, lässt sich wohl kaum mehr dazu sagen. Aus dem Blickwinkel der Ermittler gilt der Aktendieb, der mit beiden Händen "nella marmelata" erwischt wurde, immer noch als der einzige Schuldige.

Der Journalist nannte seine Quellen "Maria"

Hinter – oder besser vor – das Haus des Rechts hat die menschliche Natur allerdings das Haus der Intrigen, des Neides, der Bosheit gebaut. Hier geht es nicht um Straftaten, sondern um allzumenschliche Abgründe. Zu diesem Haus mit vielen Räumen liefert das Buch "Sua Santità" des Enthüllungsjournalisten Gianluigi Nuzzi (43) eine Art Generalschlüssel.

Nach einer Reihe von vertraulichen Dokumenten, die seit Anfang des Jahres aus dem Vatikan in die italienische Presse sickerten, hat Nuzzi hier seit dem 17. Mai eine enorme Menge an Briefen vom Schreibtisch des Papstes en bloc vermarktet. "Die Regeln der Transparenz sollten auch für die Kirche gelten", begründet er sein Vorgehen, weil "Geheimhaltung das Vorzimmer des Zweifels und des Misstrauens" sei. Doch nun kehrt sich die von ihm beschworene Transparenz gegen seine eigene Quellen.

In seinem Buch gab er ihnen den Sammelnamen "Maria". Wer oder was ist das – eine Person oder eine Chiffre? Es seien "praktizierende Katholiken, die im Vatikan arbeiten oder leben und solches Vertrauen genießen, dass sie Zugang zu vertraulichen Dokumenten haben." Diesen "kleinen Helden des Buchs" werde Nuzzi immer danken.

Sie werden sich für den Dank allerdings nicht mehr viel kaufen können. Da ist eben zuerst Paolo "Paoletto" Gabriele, sein Hauptlieferant, den er auf Seite 11 einmal beiläufig erwähnt und mit der unvorsichtigen Veröffentlichung einer Abrechnung – auf Seite 311 – hinter Gitter brachte, weil nur er dieses Papier zweifelsfrei hatte entwenden können.

Benedikt XVI. (85) habe Paoletto "geliebt wie einen Sohn", hat Kardinalstaatssekretär Bertone kürzlich erklärt. Dennoch fing Päulchen schon vor Jahren an, ihn zu bestehlen wie ein Rabe. Es waren aber keine Edelsteine, sondern immer nur Papiere. Geheimste Papiere, die er aus den päpstlichen Gemächern heraus trug — auch deutsche Briefe, die er selber nicht einmal lesen konnte.

Auch die Staatsanwälte ermitteln

Das ist eine der vielen Erkenntnisse einer Untersuchungskommission aus drei alten Kardinälen, die der Papst zur Aufklärung des Verrats berufen hat, um nicht nur die "kleinen Helden" Nuzzis, sondern im Notfall jedermann im Vatikan befragen zu können. Kardinäle etwa sind nur Kardinälen zu Rede und Antwort verpflichtet.

Unter ihnen gehen die Untersuchungen routiniert weiter, wiederholt Pater Lombardi in seinen trockenen Briefings, wobei er die Nase so rümpft, als versuche er, die verrutschte Brille wieder vor die Augen zu balancieren. Vier bis fünf Anhörungen gibt es pro Woche in diesen heißen Sommertagen in Rom, von Klerikern wie von Laien, wobei eine solche "Anhörung einer Person noch nicht gleichbedeutend mit einem Verdacht" sei, wie Lombardi betont.

Parallel dazu ermittelt auch die Staatsanwaltschaft weiter. Es geht in dem Fall nicht nur um schweren Diebstahl, sondern um höchsten Geheimnisverrat, der nach Artikel III, Absatz 2 der Vatikanischen Verfassung für den vorsätzlichen Bruch des "päpstlichen Geheimnisses" sogar die Strafe der Exkommunikation nach sich ziehen kann. Gabriele selbst soll kooperieren, er sei ruhig und "bete viel", wie Pater Lombardi am Donnerstag sagte.

Gabriele hat seine Arbeit gut gemacht

Doch auch wenn der "Rabe" nur zögerlich "singen" sollte, erzählen die bei ihm aufgefundenen Dokumente, sein sichergestellter PC und sein Smartphone natürlich schon Bände über seine Kontakte und seinen Hintergrund.

Und wie eine Nachtigall singt eben weiterhin Nuzzis Buch, das die kriminalistischen Theologen so kritisch studieren wie geschulte Exegeten die Bibel lesen. Danach setzen sich viele Umstände um die Person des Aktendiebs zu dem Fall schon jetzt wie ein Puzzle zusammen.

Denn zur Hauptfigur fehlt "Paoletto" Gabriele alles. Alle, die ihn kennen – und es kennen ihn viele im und rings um den Vatikan - beschreiben ihn als schlichten, einfältigen und frommen Mann. Er hat seine Arbeit gut gemacht. Immer korrekt. Als "bella figura". Da störte auch sein leicht verkniffenes Gesicht kaum, das auf den Fotos vielen erst heute auffällt. Er wollte ein "Buonista" sein, heißt es, ein Gutmensch.

Im Vatikan fing er seine berufliche Karriere als Reinigungskraft an, pflegte die Marmorböden des Petersdoms und der "Sacri Palazzi", bis ihn ein gewisser Monsignor Paolo Sardi (77) an Erzbischof James Harvey (62) weiterempfahl, den Präfekten des päpstlichen Hauses. Es war das große Los für Gabriele. 2006 wurde er Nachfolger des legendären Kammerdieners Angelo Gugel, obwohl der ihn nach einer Prüfung als zu unbedarft empfand und nicht für diesen Dienst empfehlen wollte.

Die Arbeit des Kammerdieners ist ein höchst differenzierter, höchst vertrauensvoller Halbtagsdienst, für den Gabriele neben seinem Gehalt auch mit einer schönen Dienstwohnung in einem Haus hinter der Sankt Anna-Kirche innerhalb der Mauern des Vatikans – und direkt an der roten Mauer mit dem hohen Gitter - an der Via dei Pellegrini für sich, seine Frau und ihre drei Kinder entlohnt wurde. Der Dienst verlangt einen reifen Charakter, den Gabriele offensichtlich nicht hatte.

Vielleicht vertraute er auf sehr hohen Schutz

Darum sitzt er jetzt zwei Blocks weiter in der Kaserne der Gendarmerie streng abgeschirmt in Haft. Aber auch jetzt will er noch am Sonntag – in Begleitung von Gendarmen, ohne Handschellen – zur Sonntagsmesse, und dafür wird er wohl auch beichten wollen, wie alle echten Sünder, aus denen die katholische Kirche ja nun einmal besteht. Alle, die ihn kennen, sind überzeugt, dass er aus frommer Überzeugung gehandelt haben muss und dass er darin wohl bestärkt wurde.

Nach seiner Enttarnung am Dienstagabend des 22. Mai beseitigte er bis zu seiner Verhaftung am Mittwochabend (23. Mai) in höchst auffälliger Weise kein einziges der vielen belastenden Schriftstücke in seiner Wohnung. Eine Hausdurchsuchung schien ihm wohl vollkommen unwahrscheinlich. Auf die langsam mahlenden Mühlen des extrem entschleunigten Vatikans kann er sich dabei nicht verlassen haben. Näher liegt der Verdacht, dass er auf sehr hohen Schutz im Vatikan vertraut haben muss.

In der "Repubblica" weitere Enthüllungen angedroht

Verräterisch sprechend war auch, dass nur Tage nach der Enttarnung Gabrieles durch den päpstlichen Privatsekretär Georg Gänswein (55) die seit Monaten anhaltende Kampagne der "Vatileaks" gegen das vatikanische Leitungspersonal plötzlich ganz offen und zielgerichtet in eine Erpressung eben dieses Sekretärs umschlug, dem von einem anonymen Autor in der "Repubblica" weitere Enthüllungen angedroht wurden, sollte sich der Papst nicht rasch von seinen "unfähigen Mitarbeitern" (collaboratori inetti) trennen.

Es war, als habe einer der tapferen "kleinen Helden" Nuzzis plötzlich die Nerven verloren. Danach war Stille an der Erpresserfront. Gabriele hat von all dem in seinem provisorischen vatikanischen "Sicherheitsraum" schon gar nichts mehr mitbekommen.

Ob ihm hinter Gittern aufgegangen ist, dass er hinters Licht geführt wurde, wird das Gericht in dem Prozess heraus finden müssen, der im Herbst gegen ihn beginnen soll. Doch eigentlich müsste er spätestens zwei Wochen vor seiner Verhaftung gemerkt haben, dass an den Einflüsterungen, die ihn zu dem Vertrauensbruch verführt hatten, etwas nicht stimmen konnte.

Das war, als das Buch Nuzzis mit seiner Diebesware plötzlich mit großem medialen Trara auf den Markt kam. Hatte er sich damit getröstet, dass die vatikanischen Ermittler womöglich nur eine fiktive Spionin namens "Maria" jagten?

"Auffällig viele Kontakte"

Dass nun die Spekulationen über Fraktionen innerhalb der Kurie blühen, ist kein Wunder. Die ganz große Intrige ganz oben – sie ist natürlich der Stoff, nach dem sich mancher die Lippen leckt. Und wenn es nun anders wäre – kleiner, gemeiner?

Halten wir uns doch einfach an das, was vor aller Augen liegt, lesen wir ein wenig die Spuren, in denen auch die Ermittler lesen. Wo wohnte Gabriele, mit wem sprach er, mit wem war er viel zusammen? Er hatte nachmittags viel Zeit, über die es in der italienischen Presse heißt, er habe darin auffällig "viele Kontakte" gepflegt, zu Journalisten ebenso wie zu anderen Bürgern des Vatikanstaates und Italiens.

Darüber wird auch sein Handy eine Menge verraten und seine Sprachbox, sein Mail-Verkehr. Die Kriminalisten des Vatikans beherrschen ihr Handwerk nicht weniger als weltliche Kollegen.

Haushälterin ist dem Papst nah

Keine Raffinesse brauchte es, um herauszufinden, dass in seinem Haus an der Vatikanmauer auch Ingrid Stampa (62) wohnt, die in dem Nuzzi-Buch auf den Seiten 6, 14 und 74 als "treue Haushälterin", "inoffizielle Beraterin" und "eine der wenigen Frauen, auf die der Pontifex" hört, vorkommt (auf Seite 74 wird zudem verraten, auf welche Weise sie sich in höchst delikate Prozesse des Vatikans und Entscheidungen des Papstes einmischte).

Bei Gabrieles Frau und Kindern war die Nachbarin vor und nach dessen Dienstschluss gern gesehener Gast. Keiner im Vatikan war dem Meisterdieb so nah wie sie. "Es war ein intensiver Kontakt", weiß eine andere Nachbarin. Das weiß hinter der Sankt Anna Pforte jeder – von den Offizieren der Schweizer Garde und der Gendarmerie, über die Postboten, die Augustiner der Pfarrei Sankt Anna und die vielen Mitarbeiter der nahen Redaktion des Osservatore Romano.

Der ehemalige Leibarzt Johannes Pauls II. hatte die musische Dame Kardinal Ratzinger 1991 als Haushälterin empfohlen, nachdem dessen Schwester Maria gestorben war. Seit damals ist sie ihm nah. Vor fünf Jahren war auf "Welt Online" aber auch schon von Stimmen auf den Fluren des Vatikans zu lesen, die sie "Päpstin" (Papessa) nannten, weil die scheue Musik-Professorin in "dem undurchsichtigen Kräfteparallelogramm des Staatssekretariats eine kaum definierte Libero-Position" inne hatte, weil sie sich "im Labyrinth der Tapetentüren ungehindert Zugang zum Pontifex zu verschaffen wisse: als selbst ermächtigte Beraterin, die jenseits jeglicher Kompetenz das Ohr und weiche Herz des Heiligen Vaters finde." Das war damals.

Heute ist unter Kennern des Vatikans die weit verbreitete Kenntnis über die Eifersucht Ingrid Stampas auf jede und jeden dazu gekommen, dem der Papst tatsächlich oder möglicherweise noch mehr als ihr vertraut.

Nur von einem in der Eifersucht übertroffen

Von diesem Leiden wird sie in Rom wohl nur noch von der Eifersucht des früheren Ratzinger-Sekretärs und heutigen Kurienbischofs Josef Clemens (65) auf der anderen Seite des Petersplatzes übertroffen, dem es seit Jahren nicht mehr gelingt, einen geradezu irrationalen Neid auf seinen Nachfolger an der Seite des Papstes geheim und im Zaum zu halten. 19 Jahre hatte er Joseph Ratzinger gedient. Dass er seinen Nachfolger für einen "unfähigen Mitarbeiter" des Pontifex hält, pfeifen seit langem die römischen Spatzen von den Dächern.

In seiner Eifersucht fand der Bischof aus Deutschland in der ehrgeizigen Ingrid Stampa seit Jahren eine zuverlässig Gleichgesinnte. Nur sie war deshalb auch Teilnehmerin jener legendären Abendessen, zu denen der Kurienbischof bis vor kurzem den Papst noch dreimal im Jahr zu sich in den obersten Stock des Palazzo del Sant’Uffizio einladen durfte – bis diese Tradition (nach Auskunft eines anderen Bischofs) vor Wochen von Benedikt XVI. selbst abrupt mit einem Brief beendet wurde.

Theologisch hingegen ist die alte Papst-Vertraute und ehemalige Haushälterin seit langem mit Kardinal Paolo Sardi ein Herz und eine Seele, mit eben jenem Monsignore also, der "Paoletto" Gabriele vor Jahren einmal die Tür und den Aufstieg zum Papst-Palast öffnete.

Der gebildete Kirchenfürst aus Norditalien war viele Jahre für die Papstansprachen zuständig, was wohl eine Position mit hohem Verführungsfaktor ist, sich hin und wieder schlauer und päpstlicher vorzukommen als der Papst. Dass er ein Freund der Theologie Joseph Ratzingers war, kann man ihm nicht nachsagen, und auch dem Kurs des Papstes kann er so wenig abgewinnen wie dessen winziger Handschrift, um wenig zu sagen.

All dies wissen im Vatikan viele. Der kleine Staat ist ja auch ein großes Dorf. Am 22. Januar 2011 nahm der Papst das aus Altersgründen eingereichte Rücktrittsgesuch Kardinal Sardis vom Amt des Vize-Kämmerers umstandslos an.

Kein Putsch, keine Palast-Revolution

Es ist nicht zu viel behauptet, dass diese drei Personen – in verschieden großem Abstand – zu, bei oder hinter Paolo Gabriele standen. Natürlich werden sie sich allein deshalb nicht gewundert haben, gleichsam automatisch in die Untersuchung miteinbezogen zu werden – und natürlich gilt für alle die Unschuldsvermutung. Damit durften sie rechnen, als prominente Vertreter jenes Klimas, in dem seine Finger irgendwie immer länger wurden.

Der komplette Hintergrund des systematischen Aktendiebstahls ist also – das lässt sich jetzt schon sagen – durchaus nicht eindimensional. Unterkomplexe Verschwörungstheorien werden dem Fall nicht gerecht. Was sich abzeichnet, ist ein Amalgam des Vertrauensmissbrauchs und Versteckspiels verschiedener Kräfte, die sich – angefangen von Gianluigi Nuzzi – aus verschiedenen Motiven der Diebeskunst des Kammerdieners bedient haben.

Er mag ein betrogener Betrüger sein. Ein Lustspiel ist das Drama dennoch keineswegs, in das er da verwickelt ist. Eine Verschwörung innerhalb der Kurie? Vielleicht auch das, aber nur ein bisschen. Es ist jedenfalls kein Putsch. Keine Palast-Revolution. Kein Dan Brown. Alles ist viel realistischer – und menschlicher: ein Reigen klopfender Herzen voller Neid und Missgunst. Mehr Dostojewski als Shakespeare.

"Cor hominis abyssus" (das Herz des Menschen ist ein Abgrund) weiß Benedikt XVI. von seinem Lieblingstheologen Augustinus. Jetzt steht er erschüttert vor einem Trümmerhaufen zerbrochenen Vertrauens, in einer teuflischen Prüfung im Alter, die noch nicht zu Ende ist. Selbst die klassische alte Kriminalistenfrage "cui bono?" geht in diesem Fall auf tragische Weise ins Leere: "Wem nützt das?"

Denn so fragt keiner, den Eifersucht hat erblinden lassen. Alle wollten dem Papst "helfen", heißt es – von Gianluigi Nuzzi bis zu Paoletto Gabriele. Es ist nicht nur ein bisschen gaga. Es ist irre. Ein grausames Attentat von ganz eigener Art auf den Papst, der für jeden seiner Feinde betet.

"Die Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft", wusste meine Mutter noch; ich weiß nicht woher. Dieses giftige Leiden hat im Vatikan nun viele erreicht, vom "Raben" in seiner Zelle bis zu Benedikt XVI. hoch oben in seinem goldenen Käfig, wo er mit den Schwingen seines Geistes oft so hoch wie ein junger Adler fliegt.


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