Erzbischof: Syriens Christen in Todesangst vor Entführungen

14. Juli 2012 in Aktuelles


Maronitischer Erzbischof Nassar: ‚Situatuion deprimierend‘ - Patriarch Laham: Christen sterben in Syrien nicht durch Islam, sondern durch Chaos - Neues Massaker im Nordwesten von Hama.


Rom-München-Damaskus (www.kath.net/ KAP)
Unter Syriens Christen herrscht derzeit - ebenso wie seit längerem im Irak - größte Angst vor Entführungen: Das berichtete der maronitische Erzbischof von Damaskus, Samir Nassar, am Freitag gegenüber der italienischen katholischen Nachrichtenagentur SIR. Diese "Plage" wirke sich furchtbar aus, sowohl auf das gesellschaftliche Leben wie auch auf das kirchliche oder Familienleben. "Die ohnehin schon geschwächte religiöse Praxis geht noch weiter zurück. Kinder könne nicht mehr in die Sonntags-Katechese kommen", sagte Nassar. Die Familien hätten "so große Angst, dass sie nur mehr daran denken, das Land zu verlassen". Das sei aber nicht möglich, weil die Konsulate geschlossen sind und ein offizielles Ausreiseverbot besteht. "Es ist eine deprimierende Situation", meinte der Erzbischof.

Der in Damaskus residierende melkitische Patriarch Gregorios III. Laham beklagte in einem Interview für die Würzburger "Tagespost" (Donnerstag) die ausländische Einmischung in seinem Heimatland. "Hände weg von Syrien, dann sind wir gerettet", die Syrer seien "fähig, miteinander zu leben", so Laham. Europa habe Mitschuld an dem Blut, das jetzt in Syrien fließe. "Unsere Christen werden getötet durch das Chaos. 250 sind bereits gestorben, nicht durch den Islam, sondern durch das Chaos. Nachbarn, die jahrtausendelang nebeneinander gelebt haben, erkennen plötzlich nicht mehr, dass der Bruder ein Bruder ist", berichtete der Patriarch.

Er könne mit Sicherheit sagen, dass die Christen, die getötet wurden, "nicht von einheimischen, sondern von ausländischen Muslimen umgebracht wurden", beteuerte der mit Rom unierte ostkirchliche Religionsführer: "Fremde Kräfte schüren den Hass."

Kritik übte Laham, dass es aus der EU kein Wort der Anerkennung für die neue syrische Verfassung gebe, "die ein Schritt vorwärts ist": "Warum nur ein blindes Ja für die Opposition? Europa muss die Lage ein wenig differenzierter betrachten und offene Augen haben. Wir erwarten eine viel stärkere Rolle von Europa, von Frankreich und England, aber auch von Deutschland, weil es so befreundet ist mit Israel."

Mindestens 220 Tote bei neuem Massaker

Bei einem neuerlichen Massaker sind am Donnerstag in Syrien nach Oppositionsangaben mehr als 200 Menschen getötet worden. Die Angaben schwanken zwischen 220 und 250 Todesopfern, unter ihnen viele Frauen und Kinder.

Die Opposition und die Regierung machten sich am Freitag gegenseitig für den blutigen Zwischenfall in dem Dorf Tremseh (Treimsa/Taramseh), rund 35 Kilometer nordwestlich von Hama, verantwortlich. Eine unabhängige Überprüfung der Angaben ist nicht möglich.

Sollten sich die Angaben bewahrheiten, wäre es das schlimmste Massaker an Zivilisten seit Beginn der Proteste gegen das Regime von Präsident Bashar al-Assad vor 16 Monaten. Ende Mai waren in der Kleinstadt Houla 108 Männer, Frauen und Kinder getötet worden.

Berichten zufolge hat das Regime damit begonnen, Chemiewaffen aus den Lagern zu holen. Die US-Regierung sei deswegen alarmiert, berichtete das "Wall Street Journal" am Freitag. Unklar sei, ob die Waffen vor Aufständischen in Sicherheit gebracht oder einsatzbereit gemacht werden, womöglich auch nur als Drohgebärde, zitiert das Blatt Regierungsvertreter in Washington.

Syrien besitzt größere Mengen des Nervenkampfstoffes Sarin und Senfgas. Bei einem Zusammenbruch des Regimes plane Washington, dass Spezialeinheiten aus dem Nachbarland Jordanien die syrischen Chemiewaffenlager sichern, berichtete die Zeitung.

Die syrischen Muslimbrüder haben den internationalen Sondergesandten Kofi Annan für die Gewalttat von Tremseh mitverantwortlich gemacht. Der frühere UNO-Generalsekretär, "die Russen, die Iraner und alle Länder, die für sich in Anspruch nehmen, für den Schutz von Frieden und Stabilität auf der Welt verantwortlich zu sein, und weiter schweigen", gehörten zu den Verantwortlichen für dieses Verbrechen.

Die Muslimbrüder zählen zu den Hauptfeinden des Baath-Regimes. 1982 hatte Assads Vater, der verstorbene Präsident Hafez al-Assad, einen islamistischen Aufstand in Hama rücksichtslos niederschlagen lassen. Dabei sollen bis zu 30.000 Menschen ums Leben gekommen sein.

Der oppositionelle "Syrische Nationalrat" (SNC) erklärte, um den "mörderischen Wahnsinn" zu stoppen, bedürfe es einer "dringenden und scharfen Resolution" des UNO-Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UNO-Charta, das zur Wiederherstellung des Friedens die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen sowie die Anwendung militärischer Gewalt erlaubt. In New York berät derzeit der Sicherheitsrat über eine neue Syrien-Resolution.

Die syrische Regierung machte Oppositionskräfte für das Massaker verantwortlich. Ziel sei es, die öffentliche Meinung gegen Syrien aufzuheizen. Das Massaker sei während der Sitzung des UNO-Sicherheitsrates verübt worden. Es diene dazu, ein militärisches Eingreifen von außen vorzubereiten.

Angst vor Übergreifen auf den Libanon

Frankreich hat unterdessen dem Libanon volle Unterstützung zugesichert, um ein Überschwappen der Gewalt aus dem Nachbarland Syrien abzuwenden. "Wir müssen uns hinter die Anstrengungen stellen, die der Libanon in dieser schwierigen Lage zur Verteidigung seiner Souveränität und territorialen Integrität unternimmt", erklärte der französische Präsident Francois Hollande am späten Donnerstagabend nach einem Essen mit dem libanesischen Präsidenten Michel Sleimane im Pariser Élysée-Palast.

Sleimane unterstrich seinerseits die Notwendigkeit, sein Land aus dem Syrien-Konflikt herauszuhalten und einen konfessionellen Bürgerkrieg zu verhindern. "Wir tun alles, um die Situation unter Kontrolle zu halten", fügte er hinzu.

In zwei Monaten möchte Papst Benedikt XVI. den Zedernstaat besuchen. Er wird am 15. September Präsident Sleimane - einem Christen - in dessen Palast in Baabda einen Besuch abstatten. Dort kommt es auch zu Treffen mit Regierungschef Najib Mikati, einem Sunniten, und dem Parlamentspräsidenten Nabih Berri, einem Muslim.


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