Treue zur Geschichte und Sehnsucht nach Gott

29. April 2012 in Weltkirche


Ein vorbildliches Mitglied der Katholischen Aktion, der in beständiger Übereinstimmung mit der kirchlichen Hierarchie lebte. Die Seligsprechung von Giuseppe Toniolo (1845–1918) in Rom. Von Paolo Vian


Rom (kath.net/Osservatore) Die Seligsprechung von Giuseppe Toniolo (1845–1918) ist ein außerordentlich bedeutsames Ereignis für den italienischen Katholizismus; und nicht nur für diesen. Ein Familienvater, Universitätsprofessor, bekennender Katholik wird zur Ehre der Altäre erhoben (am 29. April 2012 in der Kirche St. Paul vor den Mauern in Rom - Anm. d. Red.): ein Weg, der 1933 im Umfeld des Verbandes der katholischen Studenten Italiens (FUCI) begann.

Ein vorbildliches Mitglied der Katholischen Aktion, die in Toniolo das Beispiel eines aktiv in der Welt engagierten Laien sah, der in beständiger Übereinstimmung mit der kirchlichen Hierarchie lebte und handelte.

Aber Toniolo geht über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe hinaus und überragt diese. Auch damals war die katholische Welt von verschiedenen Seelen, die zuweilen in offener Konkurrenz zueinander standen, geprägt und manchmal gespalten: zwischen der monolithischen Unnachgiebigkeit der »Opera dei Congressi« von Giovanni Battista Paganuzzi und der nach Neuerungen strebenden Ungeduld der Jugend, die die Zügel lockern wollte, aber dabei politisch häufig im Lager des schärfsten Murrismus landete und geistig beim auf Abwege führenden Modernismus.

Sich der Gefahren und Risiken beider Positionen bewußt, tat Toniolo alles, um im Geist der Liebe einen offenen und aufrichtigen Dialog zwischen den Parteien zu fördern, in zuverlässiger Treue zur Kirche und ihren Bischöfen.

Toniolo wollte in Übereinstimmung mit den Hirten der Kirche leben, deren Freund und Mitarbeiter er häufig war; nicht um sich vor einem möglichen Kirchenbann zu schützen, sondern um sich in einem das Leben fördernden Umfeld mit der Gewährleistung der Wahrheit zu bewegen.

Wer seine Briefe auch nur durchblättert, wird sich des intensiven Lebens dieses Intellektuellen bewußt, dieses Akademikers, der unermüdlich Italien und Europa durchquert hat, um die katholische Sache mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Der zudem – um den Preis von äußerst anstrengenden, auch nächtlichen Reisen – niemals seine Vorlesungen an der Universität Pisa versäumte, um seine Pflichten gegenüber dem Staat und den Studenten zu erfüllen.

Zahllose Tugenden hat Toniolo in herausragendem Grad gepflegt. Aber wir wollen kein kitschiges Heiligenbild verbreiten, wozu uns die Umstände verleiten könnten, denn die Wirklichkeit ist schöner als die hagiographische Beschreibung, die mit ihren Klischees die Person oft eher weiter wegrückt, als sie uns näher zu bringen. Wer die Möglichkeit hat, mag dagegen die Zeugnisse der Positio aus Pisa lesen, und er wird merken, zu wie viel außerordentlicher Menschlichkeit in den konkreten Dingen des Alltags ein vollkommen in den Glauben eingetauchtes Leben fähig ist.

Und dennoch ging die Erinnerung an die Gestalt Toniolos verloren. Die Christdemokraten haben seiner bis zur Generation von Alcide De Gasperi und unmittelbar danach unter den Jüngeren bis zu Amintore Fanfani gedacht. Dieser war an der Katholischen Universität von Agostino Gemelli groß geworden, die Toniolo einen großen Teil ihrer Inspiration zu verdanken hatte.

Danach aber kam die Flut des Vergessens, gleichsam als habe der liberale Staat, der Faschismus und der Weltkrieg die Kontur eines Gesichtes ausgelöscht, indem sie es auf einer von der Zeit abgenutzten Mauer nicht nur verblassen, sondern ganz verschwinden ließen.

Im Professor aus Pisa könnten die italienischen Katholiken dagegen jetzt ein Vorbild wiederentdecken für jemanden, der voll und ganz in die Geschichte seiner Zeit eingebunden ist und zugleich seinen Blick über die Geschichte hinaus richtet.

Toniolos Denken ging in der Tat stets in die Weite und in die Tiefe, und er hat sich mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen und mit den furchteinflössenden Krisen seiner Zeit auseinandergesetzt. Man könnte sagen, daß kein Aspekt des menschlichen Zusammenlebens von ihm vernachlässigt worden wäre, angefangen bei der Ausbeutung von Arbeitern, Minderjährigen und Frauen, über die Sonn- und Feiertagsruhe, die Gehälter und Kredite bis hin zur Problematik der Bildung und Erziehung sowie der wissenschaftlichen Forschung.

Mit seinem Einsatz für die Katholische Italienische Gesellschaft für wissenschaftliche Studien, die 1899 in Como entstanden ist, wollte er eine Gesellschaft ins Leben rufen, die der von den deutschen Katholiken in der rauhen Atmosphäre des Kulturkampfes gegründeten Görres-Gesellschaft in Deutschland ähneln sollte (1876).

Er startete einen weiteren Versuch in den Jahren 1904 bis 1909, unter dem Pontifikat von Pius X., mit einer internationalen katholischen Vereinigung für den Fortschritt der Wissenschaften, deren Entstehung jedoch in den schwierigen und aufgeheizten Zeiten des Modernismus und seiner Unterdrückung noch im Keim erstickt wurde.

Doch die gesamte Arbeit, die er mit der festen Überzeugung ausführte, daß die wahre Wissenschaft keinen Widerspruch darstellen kann zum Glauben und dessen tiefer Vernunftgemäßheit, ging nicht verloren, da sie Pater Gemelli bei der Gründung der Katholischen Universität inspirieren sollte.

Es war nicht die besondere Situation der italienischen Katholiken, denen das politische Engagement notwendigerweise noch fremd war, die Toniolo zum Nachdenken über Wirtschaft und Gesellschaft bewegte. Es war vielmehr die Überzeugung, daß kein Problem sozialer oder politischer Natur in Angriff genommen werden könne, ohne seine Entstehungsgeschichte und die ideellen und kulturellen Ursprünge zu untersuchen.

Im Gegensatz zu einem kurzatmigen Pragmatismus und einem perspektivlosen Empirismus lehrt uns der neue Selige, daß alle Fragen an der Wurzel miteinander verbunden sind und auf die Sicht zurückgeführt werden können, die eine Gesellschaft vom Menschen und von Gott entwickelt; daher muß die Schlacht an dieser hauptsächlich kulturellen Front ausgetragen werden.

Toniolo hat sich bestimmt wie kein anderer dafür eingesetzt, die katholische italienische Kultur zu entprovinzialisieren, indem er sie von den von Gereiztheit gezeichneten Ansprüchen in der Zeit nach der italienischen Einigung befreite und sie zum Dialog mit den europäischen katholischen Bewegungen, mit ihren Vordenkern und Wegbereitern erhob.

Und zugleich setzte er sie den Herausforderungen durch die Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen liberaler und sozialistischer Denkart aus. Genauer betrachtet geht es bei der von ihm erteilten Lehre weniger um den Inhalt, auch wenn die desaströsen Entwicklungen einer von der Ethik losgelösten Wirtschaft ihm teilweise Recht zu geben scheinen, der im Dezember 1873 an der Universität Padua seine Einführungsvorlesung über das Thema »Über das ethische Element als intrinsischen Faktor der ökonomischen Gesetze« hielt.

Mit der Seligsprechung Toniolos wird den italienischen Katholiken nicht nur ein wertvoller Helfer und Beschützer in der Gemeinschaft der Heiligen geschenkt. Sie haben zudem die Gelegenheit, in ihm ein Beispiel und Vorbild zu entdecken, dessen Weg und Methode sie unter veränderten geschichtlichen Voraussetzungen folgen können: die Treue zur Geschichte, zur Gesellschaft und, mit einem Wort gesagt, zum Menschen sind um so wahrer und wirksamer, je mehr sie der Sehnsucht nach Gott entspringen, aus der sie Form und Gestalt erhalten, damit sie nicht scheitern und sich in ihr Gegenteil verkehren. Und dies hat das 20. Jahrhundert nach dem Tod Toniolos ja anschaulich gezeigt.



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