Die Freiheit zum Radau

21. April 2012 in Kommentar


Das große „Wir“ ist das kleine Ich des Paul Zulehner - Ein KATH.NET-Kommentar von Dr. Alexander Kissler zur Schlammschlacht eines Priesters der Erzdiözese Wien


Linz (kath.net) Auf die schweren öffentlichen Vorwürfe gegen KATH.NET antwortet Dr. Alexander Kissler in einem KATH.NET-Kommentar dem Theologen Paul Zulehner:

Lieber Herr Professor Paul M. Zulehner,

mit großem Interesse habe ich Ihre Ausführungen gelesen, die am 18. April dieses Jahres in der Online-Ausgabe der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ veröffentlicht wurden. Sie sind Pastoraltheologe, wurden promoviert und haben sich habilitiert und waren auch Dekan der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Mit Fug und Recht darf ich Sie einen gelehrten Mann nennen, einen Wissenschaftler. Gemeinhin hat der Wissenschaftler den anderen Menschen kein größeres, sondern ein hartnäckigeres Interesse an einer bestimmten Sache voraus – und das ungleich feinere, aufwendigere Instrumentarium, sie zu durchdringen. Der Wissenschaftler gibt sich nicht mit Intuition, Insinuation oder gar Vorurteilen zufrieden. Selbst Urteile sind ihm verdächtig. Der Wissenschaftler ist eigentlich nie zufrieden mit dem, was er einmal begriffen hat. Er kennt die Welt nur im Zustand des Fragens, jede Antwort ist ihm Auftakt zu neuen, immer größeren Fragen.

Sehr zu Recht rühmt sich die Wiener, Ihre Fakultät, der Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik. Die Wiener Theologen, lese ich in der Selbstdarstellung, wissen sich „den Standards heutiger Wissenschaftspraxis verpflichtet“. Sie mahnen eine „Freiheits- und Gerechtigkeitskultur für alle“ an und stehen dabei „auf dem Boden einer Tradition, die (…) ebenso vorgegeben wie aufgegeben bleibt.“ Die Wiener katholischen Theologen nehmen „Spannungen“ in Kauf zwischen Kirchenleitung und Theologie, sind aber immer zu einem „respektvollen und schöpferischen Dialog“ bereit. So will es also Ihre Fakultät halten, lieber Professor Emeritus. Warum haben Sie dieser wissenschaftlichen Ethik abgeschworen? Weshalb haben Sie sich das Fragen abgewöhnt?

So leid es mir tut: Ihre Ausführungen im „Standard“ lassen mich an der Gültigkeit dieser hehren Prinzipien für Sie zweifeln. Kann – frage ich mich, frage ich Sie – ein Mensch, für den jahrzehntelang diese Begriffe mehr waren als Schall und Rauch, plötzlich derart leichthin auf all das verzichten, wie Sie es am 18. April 2012 getan haben? Was ist geschehen, dass Sie alle Reserven fallen ließen? Warum wollen Sie nicht mehr Wissenschaftler sein, nicht mehr respektvoll und nicht mehr gerecht?

In besagtem Interview benennen Sie ganz gräuliche Subjekte, ja schlimme Menschenverderber: „Diese Gruppen“, „diese Leute“, „diese Personen“ sind offenbar verdorben durch und durch, böse von Grund auf, näherhin „antisemitisch, antimuslimisch und fremdenfeindlich.“ Schlimmer als diese Trias kann ein Vorwurf kaum sein. Doch etwas fehlt noch, um das Maß der Verworfenheit vollzumachen. Sie liefern es nach: „Wenn sie könnten, würden sie die Leute am Scheiterhaufen verbrennen.“ An der „verbalen Gewalttätigkeit“ gebe es keinen Zweifel. Von welchen Verbrechern ist die Rede? Und wer gelangt weshalb zu diesem Urteil?

Sie, werter Herr Professor, sprechen mehrfach von einem „Wir“, das diese Schuldsprüche verhängt habe. „Wir“, sagen Sie, „gehen mit Sicherheit davon aus, dass diese Gruppen politisch und kirchlich am rechten Flügel stehen.“ Und „wir meinen, dass eine innere Unsicherheit dieser Personen durch massive Abgrenzung nach außen verdeckt wird.“ Nirgends fand ich einen Hinweis, wer dieses „Wir“ sein soll, sodass ich bis zum Beweis des Gegenteils annehmen muss: Es ist der Pluralis Majestatis. Das große „Wir“ ist das kleine Ich des Paul Zulehner.

Warum urteilt dieses Ich so hart, so verletzend, so kategorial? Auch darauf fand ich kaum einen Hinweis. Sie sprechen von „allen Untersuchungen“, die ergeben hätten, dass „diese Personen mit dem Persönlichkeitsmerkmal Autoritatismus hoch ausgestattet“ seien. Wer hat wann aber diese ominösen Menschen so genau und so oft untersucht? Gibt es empirisch erhärtete Studien über diese Personen, Gruppen, Leute? Sie lassen mich abermals im Dunkeln. Als Wissenschaftler – auch mir wurde der Doktorgrad verliehen – muss ich Ihnen sagen: Das ist in höchstem Maße unseriös. Das ist nicht ernst zu nehmen.

Wer sind nun diese Leute, Gruppen, Personen, denen Sie ganz unbewiesen unterstellen, sie wünschten sich den Scheiterhaufen zurück, um ihrem Hass auf Juden, auf Moslems und auf Fremde freien Lauf lassen zu können? Es bleibt dem Interviewer vorbehalten, das Ziel Ihrer Tirade zu benennen. Es handelt sich um „die Leute, die hinter kreuz.net und kath.net stehen“.

Erste Aufgabe eines Wissenschaftlers wäre es nun, zwischen diesen beiden Internetportalen zu unterscheiden. Das tun Sie nicht. Weil das Differenzieren aber die Kerntugend des Wissenschaftlers ist, werfen Sie so alles über Bord, was Ihnen doch einmal wichtig gewesen sein muss. Sie verleugnen das Leitbild Ihrer Fakultät, verleugnen auch die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Sie verachten, wo Sie argumentieren müssten. Sie reden sich in Rage, wo Sie kühlen Kopf bewahren sollten. Dezidiert als Pastoraltheologe und ehemaliger Dekan geben Sie dieses Interview. Das muss ein Etikettenschwindel sein.

Sie werfen also „den“ Leuten „hinter“ kath.net – abermals eine unseriöse Pauschalisierung – vor, geistige Brandstifter zu sein mit einer gewaltigen Vernichtungsenergie. Keine einzige Quelle wissen Sie beizubringen für diese schwerwiegenden Pauschalvorwürfe, die eher Vorurteile sind als Urteile, eher Verleumdungen als Erkenntnisse. Sie führen mir Ihre Abneigungen, nicht Ihr Denken vor. Fast beschleicht mich ein Verdacht: Hat am Ende das Zulehnersche „Wir“ die den „Leuten“ von kath.net unterstellte „innere Unsicherheit“? Greifen Sie selbst zur „hochaggressiven Sprache“, praktizieren Sie eine „massive Abgrenzung nach außen“, die Sie bei kath.net diagnostizieren, weil Sie selbst „die Angst“ haben, die Sie „diesen Gruppen“ unterstellen, „die Angst, dass die Moral kollabiert“?

Freilich müsste die „rigide Moral“, die Sie selbst vertreten, eine andere sein als die Ihrer Feinde. Sie schätzen, sagen Sie, Pluralität und Freiheit und Gewissen. Das sind ebenfalls moralische Begriffe. Offenbar verstehen Sie aber unter Pluralität das Einverstandensein mit den eigenen Positionen, unter Freiheit die Freiheit zum Radau und unter Gewissen den Persilschein für die Spreizung des eigenen Ichs. Sagt Benedikt XVI. nicht immer wieder, das Gewissen müsse am Glauben der Kirche Maß nehmen und darum wiederentdeckt werden „als Ort des Hörens auf die Wahrheit und das Gute“? Bei Ihnen, befürchte ich leider, ist Gewissen ein Label für die eigenen Welt- und Kirchenbilder. Sie reden einer Moral des autoritären Subjektivismus das Wort.

Ihr wütender Rundumschlag gegen alles, was nicht Zulehner ist, macht mich traurig. Sie sind 72 Jahre alt. Früher hieß es, das Alter solle man ehren. Diesen alten Zopf abzuschneiden bin auch ich bereit.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Dr. phil. Alexander Kissler


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