Vom falschen Liberalismus der Katholikenfresser

13. März 2012 in Weltkirche


„Der orthodoxe Jude, der romtreue Katholik müssen sich nicht zu einem liberalen Glauben bekehren, um als Bürger zum liberalen Rechtsstaat zu stehen“. Ein kath.net-Gastkommentar von Giuseppe Gracia


Chur (kath.net) Bedenklich, sehr bedenklich scheint aus liberaler Sicht, was die romtreuen Katholiken da mit ihren Schäfchen treiben. Mit Alarmstufe Rot blinken die Schlagzeilen zu einem Hirtenbrief von Bischof Vitus Huonder aus Chur, der sich um die Ehe sorgt. Dazu verkünden der „Tages-Anzeiger“ sowie, im flotten Repetierfeuer, weitere Schweizer Großmedien seit Wochen, der Bischof kenne für Wiederverheiratete „keine Gnade“, weil: „keine Sakramente“. Und sogar: „Huonder betreibt Apartheit mit Geschiedenen“.

Woher diese kanonenschwere Empörung? Wird mit solcher Kritik einem besseren Katholizismus gedient? Oder gar dem sozialen Frieden, im Sinn des Philosophen Jürgen Habermas?

Von der Sache her geht es jedenfalls um nichts Neues. Weil die Ehe nach katholischem Verständnis unauflöslich ist, bleiben Wiederverheiratete zwar Teil der Glaubensgemeinschaft, die kein Recht hat, moralische Pauschalurteile zu fällen. Wiederverheiratete können im Sinn des Glaubens aber keine Sakramente mehr empfangen. In der Kirche galt das seit jeher, ähnlich wie die 10 Gebote, über welche die Leute schon zu biblischen Zeiten murrten. Nun wird jedoch der Anschein erweckt, es würden hier massiv Grundrechte verletzt und Menschen ausgegrenzt.

Dabei wird die simple, aber elementare Tatsache vergessen, dass es sich bei Sakramenten nicht um Grundrechte im liberalen Rechtsstaat handelt, die ein böser Potentat gewissen Volksgruppen vorenthält. Es geht um frei anzunehmende Glaubens-Elemente einer Gemeinschaft, deren Mitglieder in Freiheit dabei sind oder eben nicht (anders als bei einem staatlichen Regime). Es ist also die Rede von einer Glaubensgemeinschaft, die das Recht hat, nach eigenem Selbstverständnis innerhalb der eigenen (hierarchischen) Ordnung zu funktionieren.

Nun kann man von der katholischen oder auch jüdisch-orthodoxen Vorstellung der Ehe halten, was man will. Man sollte aber unterscheiden zwischen dem Glauben einer Gemeinschaft und den allgemeinen Rechten, die dem Staat gegenüber gelten, der das Gewaltmonopol hat.

Gerade diese Unterscheidung verschwimmt zusehends. In vielen Wortmeldungen zum aktuellen Hirtenbrief und generell, wenn es um katholische Eigenheiten geht, werden beide Ebenen vermischt. Da tauchen Kritiker auf, die alles nach gleichen Maßstäben beurteilen. Was immer eine Glaubensgemeinschaft tut, soll für alle Leute gelten können und dem Lebensstil der Mehrheit entsprechen, sonst muss man es ändern.

Solche moralisch erregten Kampfstimmen wissen jeweils genau, wann eine Religion rechtens ist und wie man die Gesellschaft befreien muss von unerwünschten anti-freiheitlichen Glaubensgruppen. Sie überlassen Ganzheitslehren nicht dem Glauben, die nur für entsprechende Mitglieder zählen, sondern denken auch im Allgemein-Politischen ganzheitlich. Das bedeutet: sie haben das rechte, wirklichkeitsnahe Lehramt für alle Religionen und Kulturen im Köcher. Und ihre Mission lautet: Bekehrung zur einen, heiligen, demokratischen Religion der Mehrheit.

Das erklärt, warum die unverfügbaren, von Offenbarung lebenden Religionen, besonders die orthodoxen, immer stärker angegriffen werden. Warum eine orthodoxe Glaubensgemeinschaft mit der Logik des demokratisch Legitimierbaren, Allgemeinheitsfähigen konfrontiert und begutachtet wird, als müssten deren Glaubensaussagen oder Lebensmodelle jederzeit für alle gelten können.

Dieser Vorgang ist im Grunde voraufklärerisch. In der Vergangenheit hatte der Staat, verflochten mit den Interessen der Kirche, eine ähnlich ganzheitliche Sicht und demnach nicht einfach Recht zu sprechen, sondern Moral für alle, egal was der Einzelne glaubte.

Inzwischen braust, Ironie der Geschichte, die säkulare Retourkutsche heran: einer Glaubensgemeinschaft, mit Vorliebe der katholischen, wird nicht mehr das Recht zugesprochen, andere Standards zu haben als der Mainstream. Die Religionsfreiheit wird angegriffen im Namen einer Freiheit für alle (im aktuellen Fall: Recht auf Sakramente für alle). Das Recht allerdings auf eine Religion des Gegensteuers, das muss verschwinden. Obwohl die Religionsfreiheit tatsächlich ein Grundrecht ist, bis hin zum Recht, seinen Glauben ohne die Segnungen der Mehrheit zu behalten.

Letztlich wollen die Kritiker eines orthodoxen Glaubens genau dies nicht. Sie wollen, dass Religionsgemeinschaften so ticken wie die Allgemeinheit, wollen überall zeitgemäße Moralvorstellungen integrieren. Der falsche Liberalismus als Einheitsmodell für sämtliche Realitäten. Obwohl seit der Aufklärung der Staat keine Ganzheitslehre vorgibt, sondern für den sozialen Frieden Rechte garantiert. Anders ist die Situation eines weltanschaulichen Pluralismus, den man ernst nimmt, nicht zu meistern.

Zum wahren liberalen Verständnis gehört es daher, den orthodoxen Glauben als Freiheitsrecht zu schützen und dies nicht als Infragestellung des Liberalismus zu sehen, sondern gerade als dessen Ausdruck. Orthodoxie und Liberalismus bilden keine Gegensätze, sondern wohnen auf verschiedenen Etagen des Daseins. Der orthodoxe Jude, der romtreue Katholik müssen sich nicht zu einem liberalen Glauben bekehren, um als Bürger zum liberalen Rechtsstaat zu stehen. Umgekehrt ist nicht gleich antiliberal, wer das Recht orthodoxer Gruppen verteidigt, orthodox zu bleiben. Der liberale Bürger ist gerufen, für den Liberalismus einzustehen, wann immer er bedroht wird. Aber dann muss er auch für die Religionsfreiheit einstehen. Deswegen kann es heute, - noch eine schöne Ironie -, ein starkes liberales Votum sein, wenn man kein Problem in der Tatsache sieht, dass eine Glaubensgemeinschaft selber bestimmt, wie sie betet, was sie glaubt oder wem sie ihre Sakramente spendet.

Wer das nicht gelten lässt und diese Gemeinschaft im Namen der Allgemeinheit zwangsreformieren will, entfernt sich nicht nur vom Liberalismus. Er stellt, um es erneut mit Jürgen Habermas zu sagen, die Religionsfreiheit in Frage, welche „der Herzschrittmacher des sozialen Friedens“ ist. An diesem Herzen wünscht man sich freilich keine offenen Operationen.

Giuseppe Gracia ist Medienbeauftragter des Bistums Chur



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