Nordafrika und Nahost: Wohin treibt die 'Arabellion'?

30. Oktober 2011 in Chronik


Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher warnt: Der Einfluss von Islamisten wächst


Bonn (idea) Wohin treibt die Arabellion, wie der „arabische Frühling“ in Nordafrika und dem Nahen Osten zunehmend genannt wird? Wird der gesellschaftliche Einfluss der radikal-islamischen Kräfte wachsen und damit die christlichen Minderheiten in noch größere Bedrängnis bringen? Solche Fragen beschäftigen nicht nur Politiker, sondern auch Menschenrechtler. „Es wäre naiv zu glauben, dass sich die westlichen Vorstellungen von Demokratie ohne weiteres durchsetzen werden“, sagt die Islamwissenschaftlerin Prof. Christine Schirrmacher (Bonn) vom Institut für Islamfragen der Evangelischen Allianz. Vieles spreche dafür, dass der Einfluss der Islamisten zunehmen werde, nachdem sie in der Vergangenheit von den autoritären und repressiven Regimes in Schach gehalten worden seien. Ein Blick nach Nordafrika scheint diese Befürchtung zu untermauern. In Tunesien haben Islamisten die ersten freien Wahlen gewonnen.

In der verfassungsgebenden Versammlung errang die islamistische Partei Ennahda (Wiedergeburt) 90 der 217 Sitze, so dass Beobachter nicht ausschließen, dass sich die künftige Verfassung an einer strengen Auslegung islamischer Regeln orientieren werde. Allerdings hat der Chef der siegreichen Partei, Rashid al-Ghanushi, angekündigt, dass die künftige Verfassung die Rechte Gottes ebenso wie die von Frauen, Männern, Religiösen und Nicht-Religiösen sichern solle.

In Libyen hat der Übergangsrat bereits angekündigt, dass das islamische Religionsgesetz, die Scharia, die Grundlage des künftigen Rechtsstaates bilden solle. Gesetze, die ihr widersprechen, seien null und nichtig. Die Scharia sieht unter anderem die Todesstrafe für den „Abfall vom Islam“ vor und bedroht daher vor allem Muslime, die Christen werden. Auch in Ägypten befinden sich islamische Extremisten auf dem Vormarsch. Die Bewegungen werden von der Islamischen Republik Iran unterstützt.

Islamisten wollen die Moderne prägen

Nach Angaben Schirrmachers berufen sich alle arabischen Länder auf die Scharia als wesentliche Quelle ihrer Verfassung und Gesetzgebung, häufig in Verbindung mit anderen Rechtssammlungen. Dieses Recht benachteilige Frauen, Nicht-Muslime, Minderheiten und Andersdenkende auch dort, wo sich Strafrecht nicht auf die Scharia stütze. Dies könne sich jetzt ändern. Für einige Gruppierungen sei die Durchsetzung der Scharia einschließlich des drakonischen Strafrechts eine unabdingbare Voraussetzung für eine gerechte und friedliche Gesellschaft. Der politische Islam betrachte die Gesetze und Regeln des Islam, wie sie im 7. Jahrhundert praktiziert wurden, auch in der Gegenwart als unumstößliche Grundlage für Gesellschaft und Staat. Er beanspruche, den wahren Islam zu vertreten, und lehne Deutungen ab, die den Islam nur auf religiöse Aspekte beschränken wollen. „Islamisten nutzen den technischen Fortschritt und wollen die Moderne prägen, nicht Prägungen und Werte der Moderne übernehmen“, so Frau Schirrmacher. Sie setzten ihre Ziele entweder auf demokratischem Wege oder durch Predigt und Sozialarbeit durch, manche auch mit Gewalt.

Gaza: Angriffe auf Christen häufen
sich

Wie der Kongress über Christenverfolgungen Mitte Oktober in Schwäbisch Gmünd deutlich machte, hat sich die Lage der religiösen Minderheiten in den arabischen Staaten nicht verbessert. Dem koptisch-orthodoxen Bischof Anba Damian (Höxter), zufolge werden in Ägypten seit dem Sturz von Machthaber Hosni Mubarak im März „systematische Verbrechen an den Kopten verübt“. An antichristlichen Gewalttaten sei auch das Militär beteiligt. Kirchen würden angezündet, Gottesdienste behindert und Mädchen entführt, ohne dass Sicherheitskräfte einschritten. Als Folge seien 100.000 Kopten ins Ausland geflohen. in Libyen und Tunesien gebe es jeweils nur wenige 100 einheimische Christen, die sich aus Angst vor Übergriffen im Geheimen versammelten. Dem Internet-Portal „Hagalil“ zufolge stehen die Christen im Gazastreifen vor ähnlichen Problemen. Seitdem die radikal-islamische Hamas-Bewegung dort 2007 die Macht übernommen habe, hätten die rund 3.000 Mitglieder christlicher Gemeinden erleben müssen, dass Hamas-Anhänger und ihre Verbündete Klöster, Kirchen und Bibliotheken in Brand steckten. Zahlreiche Gemeindemitglieder seien angegriffen und getötet worden.

Obwohl die Hamas angebe, Christen zu schützen, sei bisher niemand für antichristliche Gewalttaten belangt worden.

Ringen um Demokratie

Auch Christine Schirrmacher sieht bisher keine Anzeichen für eine Entwicklung hin zu mehr Freiheitsrechten. Beispielsweise hätten sich in Ägypten die Spielräume für die Muslimbrüder wesentlich vergrößert. Deren Ziel sei, die voll gültige Scharia einzuführen und ihren Einfluss durch die Predigt des „wahren Islam” und durch eine umfangreiche Sozialfürsorge zu erhöhen. Schirrmacher zufolge scheint der ägyptische Militärrat gemeinsame Sache mit den Muslimbrüdern machen zu wollen. Beide Gruppen seien bestrebt, die weiteren Abläufe so zu steuern, dass die neue Verfassung in ihrem Sinne ausfällt und ihre Kandidaten bei der Wahl die besten Chancen haben. Schirrmachers Fazit: „Das Ringen um die rechtsstaatliche Demokratie in den arabischen Staaten hat gerade erst begonnen. Sie wird sich nicht von selbst einstellen, sondern wohl nur dann eine Chance haben, wenn Islam und Islamismus sich zu umfassenden Menschen- und Freiheitsrechten, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und einer säkularen Gesetzgebung bekennen.“


© 2011 www.kath.net