'Einen Sonntag ohne Messe würde ich nicht aushalten'

26. Oktober 2011 in Deutschland


Chef im Luther-Land: Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, der Physiker Reiner Haseloff, stammt aus der “Lutherstadt” Wittenberg und bekennt sich im idea-Interview zu seinem katholischen Glauben


Magdeburg (kath.net/idea) Zu seinem katholischen Glauben bekannte sich der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), im Interview mit Karsten Huhn von der evangelischen Nachrichtenagentur idea. Anlass des Gesprächs war der Reformationstag (31. 10.): Der Physiker Haseloff stammt nämlich aus der Nähe von Wittenberg, dem Ausgangsort des Protestantismus, und lebt auch heute dort. Seit seiner Geburt sei Haseloff bis auf eine Ausnahme noch nie einem Sonntagsgottesdienst ferngeblieben. „Einen Sonntag ohne Gottesdienst würde ich nicht aushalten!“

Haseloff zufolge wird es für die Kirchen schwer, Volkskirche zu bleiben. Aber auch wenige Christen könnten viel Wirkung entfalten. So seien überdurchschnittlich viele Christen im Landtag von Sachsen-Anhalt vertreten. Von den 105 Mitgliedern sind 29 evangelisch und 20 katholisch; 25 sind konfessionslos, und 31 machen keine Angaben. In Sachsen-Anhalt gehören etwa 14,4 Prozent der 2,3 Millionen Einwohner der evangelischen Kirche an; 3,5 Prozent sind römisch-katholisch und über 80 Prozent konfessionslos.

idea: Herr Haseloff, Sie sind Ministerpräsident des Bundeslandes, in dem die Reformation ihren Anfang nahm. Jetzt verwalten Sie nur noch christliche Restbestände.

Reiner Haseloff: Diese Bestände sind aber wesentlich! Der christliche Glaube prägt unsere Kultur, unsere Verfassung. Einer aktuellen Umfrage zufolge identifizieren sich etwa 85 Prozent der Bevölkerung in den neuen Bundesländern weitgehend mit den christlichen Werten. Das christliche Menschenbild ist also nach wie vor prägend. Zudem ist der Anteil der Christen in der Landespolitik deutlich höher als ihr Anteil in der Bevölkerung, der bei etwa einem Fünftel liegt: Von den 105 Mitgliedern des Landtages von Sachsen-Anhalt sind 29 evangelisch und 20 katholisch, 25 sind konfessionslos, 31 machen keine Angaben.

Warum tummeln sich so viele Christen in der Politik?

Die friedliche Revolution begann ja im Raum der Kirchen. Die DDR wollte das Christentum als Relikt einer archaischen Gesellschaft überwinden. Wir Christen wollten dieses atheistische System abschütteln. Ich bin beispielsweise Anfang 1990 schlicht und einfach von meinem Pfarrer aufgefordert worden, für den Kreistag und den Stadtrat zu kandidieren. Wir hatten gebetet und gegen die Diktatur demonstriert – nun ging es darum, demokratische Strukturen aufzubauen.

Die „fromme“ Lage in Sachsen-Anhalt ist aber ganz anders als im Landtag: Nur noch 14,4 % sind evangelisch, 3,5 % katholisch – in keinem Bundesland gibt es weniger Christen als in Ihrem. Sie sind von Atheisten umzingelt.

Die meisten Nicht-Christen sind aber keine Atheisten. Den entschiedenen Atheisten gibt es hier im Osten genauso selten, wie es Christen gibt. Die meisten Leute hier sagen eher: „Ich bin gar nischt.“ Das bedeutet einfach: Man ist nicht organisiert, weder in der Kirche noch in einer Partei oder einem Verband. Man ist nichts – für viele Ostdeutsche heißt das: Ich bin normal.

Katholiken wie Sie gibt es in Sachsen-Anhalt nur 3,5 % – damit würden Sie nicht einmal in den Landtag einziehen.

Ich wurde in einem Vorort der Lutherstadt Wittenberg geboren und bin in einer „Mischehe“ aufgewachsen, wie man früher sagte: Mein Vater ist evangelisch, meine Mutter katholisch. An meiner Familie lässt sich ganz gut zeigen, wie Katholiken und Protestanten unter Druck reagieren. Mein Vater wie meine Mutter waren je eins von zehn Geschwistern. Von der evangelischen Seite meines Vaters ist heute noch ein Cousin von etwa 30 meiner ursprünglich evangelischen Verwandten in der Kirche aktiv. Von meinen ebenfalls etwa 30 katholischen Verwandten mütterlicherseits sind bis heute etwa 90 % in der katholischen Kirche aktiv geblieben. Das ist kein Einzelfall: Das Eichsfeld – wo Papst Benedikt XVI. jüngst eine Messe feierte – war im Jahr 1945 zu etwa 90 % katholisch, heute noch zu 75 %. Die Lutherstadt Wittenberg war zu 90 % evangelisch, heute sind es noch 11 %.

Wenn es hart auf hart kommt, laufen die Protestanten weg.

Offensichtlich besitzt der katholische Glaube eine sehr starke Fähigkeit, die Tradition weiterzugeben. Er prägt von Kind an durch Farben, Gerüche und Musik viel stärker, so dass der Glaube – egal unter welchen Rahmenbedingungen – eher überlebt. Dazu kommt, dass es für Katholiken eine kirchliche Pflicht ist, jeden Sonntag zur Messe zu gehen. So bin ich seit meiner Geburt noch nie einem Sonntagsgottesdienst ferngeblieben – bis auf eine Ausnahme vor 15 Jahren, als ich im Krankenhaus lag. Einen Sonntag ohne Gottesdienst würde ich nicht aushalten! Dagegen scheint es für viele Protestanten zur Freiheit eines Christenmenschen zu gehören, jeden Sonntag neu zu entscheiden, ob man zum Gottesdienst geht oder nicht.

Wenn Sie weiter so für den Katholizismus schwärmen, könnten evangelische idea-Leser nach der Lektüre dieses Interviews noch zur katholischen Kirche übertreten!

Ich will nur auf die Unterschiede zwischen beiden Kirchen hinweisen. Beispielsweise wird in vielen evangelischen Kirchen das Abendmahl nur einmal im Monat gefeiert. Dagegen wäre eine katholische Messe ohne Eucharistie undenkbar. Die Kirche braucht Riten – nur über den Verstand erreicht sie die Menschen nicht! Zudem müssen die Protestanten wieder ihre theologischen Wurzeln bewusst herausstellen. Wenn ich zum Beispiel evangelische Journalisten in Wittenberg empfange, mache ich immer einen Test: Ich frage, was sie unter Luthers Rechtfertigungslehre verstehen. Da kommen die meisten dann ins Schleudern.

Sie sind ja ein strenger Landesvater!

Wieso? Wer über die Reformation berichten will, sollte auch etwas davon verstehen. Ich lebe in Wittenberg mit Blick auf den Turm, in dem Luther sein „Turm-Erlebnis“ hatte: Dort kam Luthers Denken zum Durchbruch – die Erkenntnis, dass der Mensch allein durch Gottes Gnade gerettet wird. Nur wer das weiß, kann erklären, warum es zur evangelischen Konfession kam. Aber bei vielen fehlen selbst die Grundlagen.

Wie erklären Sie einem ostdeutschen Jugendlichen, der von der Reformation keine Ahnung hat, Luthers Anliegen?

Ich würde zuerst erklären, was christlicher Glaube überhaupt ist, denn es gibt grundsätzlich zwei Herangehensweisen ans Leben: Entweder sind wir Menschen und die Welt, in der wir leben, ein Zufallsprodukt – wir hauchen unser Leben aus, als wenn wir nie dagewesen wären.

Oder mit dieser Schöpfung ist ein von Gott gegebener Sinn verbunden – und wir können auf eine dauerhafte Existenz, ein „ewiges Leben“, hoffen. Ich glaube jedenfalls, dass die Welt einen Sinn hat und Gott sich durch Jesus Christus in der Welt offenbart hat. Seitdem dieser Jesus Christus vor 2.000 Jahren auf die Welt kam, gibt es auch Menschen, die an ihn glauben – und damit die christliche Kirche.

Später kam es zu Meinungsverschiedenheiten und damit zu Spaltungen: 1054 entstand so die orthodoxe Kirche und im 16. Jahrhundert dann die evangelische Kirche. Der Mönch Martin Luther kritisierte das Versagen der Kirche in bestimmten Punkten und wollte zurück zu den Ursprüngen der christlichen Botschaft. Leider konnten seine Reformen damals nicht innerhalb der Kirche stattfinden, so dass man sich trennte.

Ist der 500. Reformationstag – der am 31. Oktober 2017 begangen wird – für Sie ein Grund zum Jubeln oder zum Trauern?

Weder noch! Es ist in jedem Fall ein wichtiger Tag für die deutsche Nation. Für mich als Katholiken ist es ein Gedenktag, und für das Land Sachsen-Anhalt ist dieses Jubiläum eine große Herausforderung. Der Tag bedeutet für unser Land eine riesige Chance, Pilger und Touristen anzusprechen. Schon als ich im Jahr 2001 im Kulturausschuss der Stadt Wittenberg saß, habe ich darauf hingewiesen, dass wir uns auf 2017 entsprechend vorbereiten müssen. Wirtschaftlich ist dieses Ereignis für unsere Städte sehr interessant. Als ich noch Wirtschaftsminister war, habe ich deshalb den Luther-Weg mitentwickelt, der auf 400 Kilometern die Lutherstädte Wittenberg, Eisleben und Mansfeld verbindet. Unser Land hat weder Ostsee noch Alpen zu bieten – also müssen wir kulturelle und spirituelle Angebote machen.

Millionen von Pilger ziehen nach Wittenberg – zum „evangelischen Rom“ –, obwohl dort kaum noch geistliches Leben existiert.

Die Gemeinden in Wittenberg sind schon sehr aktiv, sie sind auch nicht kleiner als die Kerngemeinden in westdeutschen Städten. Es bleibt für die Kirchen aber eine Herausforderung, die Frage nach Gott in der Bevölkerung lebendig zu halten. Sonst geht das christliche Zeitalter in Mitteleuropa zu Ende. Ich bin mir sicher, dass die Frage „Warum ist unsere Mission heute so erfolglos?“ Luther heute besonders umtreiben würde.

Welche Antwort geben Sie auf diese Frage?

Sicher spielt es eine Rolle, dass zwei atheistische Diktaturen über Ostdeutschland hinweggegangen sind – das hat Spuren hinterlassen.

Die Kirchenaustritte waren wahrscheinlich der einzige Punkt, in dem die DDR tatsächlich Planerfüllung erreichte.

Die DDR-Staatsführung wusste sehr genau, wie man die Möglichkeiten bei Studium und Karriere für Christen einschränken muss, um viele zum Austritt zu bewegen. Dennoch blieben nicht wenige Christen ihrem Glauben treu.

Warum sind Sie Christ geblieben?

Zum einen, weil der christliche Glaube keine Wellness-Religion ist – und zum anderen, weil er mir Fragen beantwortet, die man in der DDR gar nicht mehr stellen durfte. Dazu kam der Rückhalt durch die Kirchgemeinde – bis heute ist die Gemeinde für mich eine Gegengesellschaft geblieben, ein Ort, an dem soziale Hierarchien oder Konkurrenzdenken keine Rolle spielen. Vor dem Kommunionstisch steht der Hartz-IV-Empfänger in der gleichen Reihe wie der Ministerpräsident. Nicht zuletzt ist es natürlich auch Gottes Gnade zu verdanken, dass ich diese Zeit als Christ überstanden habe.

Müssen sich die Christen in Deutschland auf sachsen-anhaltinische Verhältnisse einstellen – also darauf, zur Minderheit zu werden?

Ich rechne damit, dass es in Zukunft schwer sein wird, Volkskirche zu bleiben. Der christliche Glaube war schon immer auf eine Minderheit angelegt. Sonst hätte Jesus seine Nachfolger nicht dazu aufgerufen, Sauerteig zu sein, der am Anfang klein erscheint – sondern eher das Mehl, das alles umfasst. Doch auch was als wenig erscheint, kann viel Wirkung entfalten.

Viele Naturwissenschaftler haben die Vorstellung von Gott zur Seite gelegt. Warum halten Sie als Physiker dennoch daran fest?

Weil ich gerade als Naturwissenschaftler um die Grenzen des empirischen Messens und Erkennens weiß. Viele Fragen, die uns beschäftigen, werden unzulässigerweise wissenschaftlich begründet – obwohl die Wissenschaften dazu eigentlich gar nichts sagen können! So kann das so genannte wissenschaftliche Weltbild zur Ersatz-Religion werden. Wenn Physiker zum Beispiel die Vorstellung vertreten, es gäbe neben unserem Universum noch weitere, hat das mit Physik nichts mehr zu tun – das ist reine Spekulation.

Es gibt Spötter, die dem christlichen Glauben den gleichen Vorwurf machen: Der Glaube an die Existenz Gottes sei in etwa so plausibel wie der Glaube an ein „fliegendes Spaghettimonster“.

Wer nur an das glaubt, was er unmittelbar erkennen kann, nimmt nur einen Teil der Wirklichkeit wahr. Es ist beispielsweise nicht möglich, Liebe wissenschaftlich nachzuweisen. Dennoch wissen wir, dass es sie gibt. Es macht den Menschen geradezu aus, dass er lieben kann. Offensichtlich gibt es also eine Wirklichkeit, die sich der wissenschaftlichen Beschreibung entzieht. Diese Wirklichkeit beschreibt der 1. Johannes-Brief 4,16 so: „Gott ist die Liebe.“ Und diese Liebe sollten wir Christen versuchen zu leben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Reiner Haseloff ist seit dem 19. April 2011 Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt (mit der Landeshauptstadt Magdeburg). Der Physiker ist verheiratet und hat zwei Kinder. Der katholische CDU-Politiker lebt in der Lutherstadt Wittenberg. Haseloff spricht am 21. Januar 2012 auf dem Impulstag des Kongresses christlicher Führungskräfte in Leipzig. (www.führungskräftekongress.de).

Foto: (c) Dr. Reiner Haseloff, www.reiner-haseloff.de



© 2011 www.kath.net