Papst würdigt Luther und fordert stärkeres Glaubenszeugnis

23. September 2011 in Deutschland


Benedikt appellierte am Freitag im Erfurter Augustinerkloster an die Kirchen, in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft ein gemeinsames Zeugnis des Glaubens zu geben. UPDATE: Die Ansprache des Papstes in voller Länge


Erfurt (kath.net/KNA) Papst Benedikt XVI. hat Martin Luther als leidenschaftlichen Gottsucher gewürdigt. Er appellierte am Freitag im Erfurter Augustinerkloster an die Kirchen, in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft ein gemeinsames Zeugnis des Glaubens zu geben. Das sei die wichtigste ökumenische Aufgabe.

Der Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, ermunterte beim Treffen des Papstes mit führenden Vertretern der evangelischen Kirche die katholische Kirche, konkrete Fortschritte für konfessionsverbindende Ehen und Familien sowie bei beim gemeinsamen Abendmahl zu ermöglichen.

Benedikt XVI. betonte, das Treffen an diesem historischen Ort sei für ihn «ein bewegender Augenblick». Was den Luther umgetrieben habe, «war die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft und Triebfeder seines Lebens» gewesen sei. «Theologie war für ihn keine akademische Angelegenheit, sondern das Ringen um sich selbst, und dies wiederum war ein Ringen um Gott und mit Gott.» Im Erfurter Augustinerkloster hatte Luther zwischen 1505 und 1512 als Mönch gelebt und dort nach der Priesterweihe 1507 seine erste Messe gelesen.

Mit Blick auf die Rolle der Kirchen in der modernen Gesellschaft räumte das Kirchenoberhaupt Versäumnisse beider Seiten ein. «Es war der Fehler des konfessionellen Zeitalters, dass wir weithin nur das Trennende gesehen und gar nicht existenziell wahrgenommen haben, was uns mit den großen Vorgaben der Heiligen Schrift und der altchristlichen Bekenntnisse gemeinsam ist.» Es sei «der große ökumenische Fortschritt der letzten Jahrzehnte, dass uns diese Gemeinsamkeit bewusst geworden ist». Katholiken und Protestanten könnten das durch gemeinsames Beten und Singen und durch gemeinsames Eintreten für das christliche Ethos bezeugen.

Der Papst warnte, dass der ökumenische Fortschritt auch wieder verspielt werden könne. Die Kirchen müssten sich die Frage stellen, wie sie auf die zunehmende Religionsferne reagieren sollten: «Nicht Verdünnung des Glaubens hilft, sondern nur ihn ganz zu leben in unserem Heute.» In diesem Zusammenhang verwies Benedikt XVI. auf die christlichen Widerstandskämpfer der NS-Zeit. Sie hätten die erste große ökumenische Öffnung bewirkt und seien damit ein Beispiel für die Gegenwart.

Mit Blick auf Luthers Suche nach dem gnädigen Gott beklagte Benedikt XVI. mangelndes Sündenbewusstsein der modernen Menschen. «Sofern man heute überhaupt an ein Jenseits und ein Gericht Gottes glaubt, setzen wir doch praktisch fast alle voraus, dass Gott großzügig sein muss und schließlich mit seiner Barmherzigkeit schon über unsere kleinen Fehler hinwegschauen wird.» Doch das Böse, dass Menschen heute anrichteten, sei keineswegs eine Kleinigkeit, sagte der Papst mit Blick auf Korruption, Geldgier, Umweltzerstörung und eine ungerechte Verteilung von Reichtum.

Schneider mahnte konkrete Fortschritte in der Ökumene an. Er äußerte die Hoffnung, dass die Kirchen ihren «Eigen-Sinn» überwinden und «getrennt gewachsene Traditionen als gemeinsame Gaben» verstehen könnten. «Danach sehnen sich viele Menschen in allen Regionen Deutschlands.» Zwar hätten die Kirchen frühere Feindschaften überwunden und lebten ihren Glauben schon vielfach gemeinsam; zudem erkennten die Kirchen das Sakrament der Taufe wechselseitig an. «Das ist ein großer Fortschritt», betonte der Ratsvorsitzende. Damit könnten die Kirchen aber noch nicht zufrieden sein.

Schneider, der den Papst als «Bruder in Christus» anredete, ermunterte das Kirchenoberhaupt, Luther als «Scharnier zwischen unseren Kirchen zu verstehen, weil er zu beiden Kirchen gehört». Die Reformatoren hätten die Reformation als Umkehr der Kirche zu Christus verstanden. Der Ratsvorsitzende versicherte, dass die evangelische Kirche das Reformationsjubiläum 2017 nicht im «Geist triumphalistischer Großspurigkeit» begehen werde. Er bat den Papst, «den 31. Oktober 2017 als ein Fest des Christusbekenntnisses zu verstehen und mit den Kirchen der Reformation zu feiern, so dass wir alle in ökumenischer Verbundenheit Christus bezeugen». Die Landesbischöfin Ilse Junkermann würdigte den Papstbesuch im Augustinerkloster als wichtiges ökumenisches Zeichen.

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UDATE: kath.net dokumentiert die Ansprache von Papst Benedikt XVI. bei seiner Begegnung mit Vertretern des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Erfurter Augustinerkloster in voller Länge:

Liebe Brüder und Schwestern!

Wenn ich hier das Wort ergreife, möchte ich zunächst von Herzen danken, daß wir da zusammenkommen können. Mein besonderer Dank gilt Ihnen, lieber Bruder Präses Schneider, daß Sie mich willkommen geheißen und mich durch Ihre Worte in Ihre Runde aufgenommen haben. Sie haben Ihr Herz geöffnet, den wirklich gemeinsamen Glauben, die Sehnsucht nach Einheit offen ausgedrückt. Und wir freuen uns auch, denn ich glaube, daß diese Sitzung, unsere Begegnungen auch als das Fest der Gemeinsamkeit des Glaubens begangen werden. Ich möchte allen noch danken für das Geschenk von Ihnen, daß wir hier, an diesem historischen Ort miteinander als Christen sprechen dürfen.

Für mich als Bischof von Rom ist es ein tief bewegender Augenblick, hier im alten Augustinerkloster zu Erfurt mit Ihnen zusammenzutreffen. Wir haben es eben gehört: Hier hat Luther Theologie studiert. Hier ist er zum Priester geweiht worden. Gegen den Wunsch seines Vaters ist er nicht beim Studium der Rechte geblieben, sondern hat Theologie studiert und sich auf den Weg zum Priestertum in der Ordensgemeinschaft des heiligen Augustinus gemacht. Und auf diesem Weg ging es ihm ja nicht um dieses oder jenes. Was ihn umtrieb, war die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft und Triebfeder seines Lebens und seines ganzen Weges gewesen ist. „Wie kriege ich einen gnädigen Gott": Diese Frage hat ihn ins Herz getroffen und stand hinter all seinem theologischen Suchen und Ringen. Theologie war für Luther keine akademische Angelegenheit, sondern das Ringen um sich selbst, und dies wiederum war ein Ringen um Gott und mit Gott.

„Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" Daß diese Frage die bewegende Kraft seines ganzen Weges war, trifft mich immer wieder ins Herz. Denn wen kümmert das eigentlich heute noch – auch unter Christenmenschen? Was bedeutet die Frage nach Gott in unserem Leben? In unserer Verkündigung? Die meisten Menschen, auch Christen, setzen doch heute voraus, daß Gott sich für unsere Sünden und Tugenden letztlich nicht interessiert. Er weiß ja, daß wir alle nur Fleisch sind. Und sofern man überhaupt an ein Jenseits und ein Gericht Gottes glaubt, setzen wir doch praktisch fast alle voraus, daß Gott großzügig sein muß und schließlich mit seiner Barmherzigkeit schon über unsere kleinen Fehler hinwegschauen wird. Die Frage bedrängt uns nicht mehr. Aber sind sie eigentlich so klein, unsere Fehler? Wird nicht die Welt verwüstet durch die Korruption der Großen, aber auch der Kleinen, die nur an ihren eigenen Vorteil denken? Wird sie nicht verwüstet durch die Macht der Drogen, die von der Gier nach Leben und nach Geld einerseits, von der Genußsucht andererseits der ihr hingegebenen Menschen lebt? Wird sie nicht bedroht durch die wachsende Bereitschaft zur Gewalt, die sich nicht selten religiös verkleidet? Könnten Hunger und Armut Teile der Welt so verwüsten, wenn in uns die Liebe zu Gott und von ihm her die Liebe zum Nächsten, zu seinen Geschöpfen, den Menschen, lebendiger wäre? Und so könnte man fortfahren. Nein, das Böse ist keine Kleinigkeit. Es könnte nicht so mächtig sein, wenn wir Gott wirklich in die Mitte unseres Lebens stellen würden. Die Frage: Wie steht Gott zu mir, wie stehe ich vor Gott – diese brennende Frage Luthers muß wieder neu und gewiß in neuer Form auch unsere Frage werden, nicht akademisch sondern real. Ich denke, daß dies der erste Anruf ist, den wir bei der Begegnung mit Martin Luther hören sollten.

Und dann ist wichtig: Gott, der eine Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, ist etwas anderes als eine philosophische Hypothese über den Ursprung des Kosmos. Dieser Gott hat ein Gesicht, und er hat uns angeredet. Er ist im Menschen Jesus Christus einer von uns geworden – wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich. Luthers Denken, seine ganze Spiritualität war durchaus christozentrisch: „Was Christum treibet", war für Luther der entscheidende hermeneutische Maßstab für die Auslegung der Heiligen Schrift. Dies aber setzt voraus, daß Christus die Mitte unserer Spiritualität und daß die Liebe zu ihm, das Mitleben mit ihm unser Leben bestimmt.

Nun könnte man vielleicht sagen: Schön und gut, aber was hat dies alles mit unserer ökumenischen Situation zu tun? Ist dies alles vielleicht nur ein Versuch, sich an den drängenden Problemen vorbeizureden, in denen wir auf praktische Fortschritte, auf konkrete Ergebnisse warten? Ich antwortete darauf: Das Notwendigste für die Ökumene ist zunächst einmal, daß wir nicht unter dem Säkularisierungsdruck die großen Gemeinsamkeiten fast unvermerkt verlieren, die uns überhaupt zu Christen machen und die uns als Gabe und Auftrag geblieben sind. Es war der Fehler des konfessionellen Zeitalters, daß wir weithin nur das Trennende gesehen und gar nicht existentiell wahrgenommen haben, was uns mit den großen Vorgaben der Heiligen Schrift und der altchristlichen Bekenntnisse gemeinsam ist. Es ist für mich der große ökumenische Fortschritt der letzten Jahrzehnte, daß uns diese Gemeinsamkeit bewußt geworden ist, daß wir sie im gemeinsamen Beten und Singen, im gemeinsamen Eintreten für das christliche Ethos der Welt gegenüber, im gemeinsamen Zeugnis für den Gott Jesu Christi in dieser Welt als unsere gemeinsame, unverlierbare Grundlage erkennen.

Freilich, die Gefahr, daß wir sie verlieren, ist nicht irreal. Ich möchte zwei Gesichtspunkte kurz notieren. Die Geographie des Christentums hat sich in jüngster Zeit tiefgehend verändert und ist dabei, sich weiter zu verändern. Vor einer neuen Form von Christentum, die mit einer ungeheuren und in ihren Formen manchmal beängstigenden missionarischen Dynamik sich ausbreitet, stehen die klassischen Konfessionskirchen oft ratlos da. Es ist ein Christentum mit geringer institutioneller Dichte, mit wenig rationalem und mit noch weniger dogmatischem Gepäck, auch mit geringer Stabilität. Dieses weltweite Phänomen – von dem ich von Bischöfen aus aller Welt immer wieder höre – stellt uns alle vor die Frage: Was hat diese neue Form von Christentum uns zu sagen, positiv und negativ? Auf jeden Fall stellt es uns neu vor die Frage, was das bleibend Gültige ist und was anders werden kann oder muß – vor die Frage unserer gläubigen Grundentscheidung.

Tiefgehender und in unserem Land brennender ist die zweite Herausforderung an die ganze Christenheit, von der ich sprechen möchte: der Kontext der säkularisierten Welt, in dem wir heute als Christen unseren Glauben leben und bezeugen müssen. Die Abwesenheit Gottes in unserer Gesellschaft wird drückender, die Geschichte seiner Offenbarung, von der uns die Schrift erzählt, scheint in einer immer weiter sich entfernenden Vergangenheit angesiedelt. Muß man dem Säkularisierungsdruck nachgeben, modern werden durch Verdünnung des Glaubens? Natürlich muß der Glaube heute neu gedacht und vor allem neu gelebt werden, damit er Gegenwart wird. Aber nicht Verdünnung des Glaubens hilft, sondern nur ihn ganz zu leben in unserem Heute. Dies ist eine zentrale ökumenische Aufgabe, in der wir uns gegenseitig helfen müssen: tiefer und lebendiger zu glauben. Nicht Taktiken retten uns, retten das Christentum, sondern neu gedachter und neu gelebter Glaube, durch den Christus und mit ihm der lebendige Gott in diese unsere Welt hereintritt. Wie uns die Märtyrer der Nazizeit zueinander geführt und die große erste ökumenische Öffnung bewirkt haben, so ist auch heute der in einer säkularisierten Welt von innen gelebte Glaube die stärkste ökumenische Kraft, die uns zueinander führt, der Einheit in dem einen Herrn entgegen. Und darum bitten wir Ihn, daß wir neu den Glauben zu leben lernen und daß wir so dann eins werden.


Video von der Ankunft in Erfurt:




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