Wer fürchtet sich vorm weißen Mann?

21. September 2011 in Deutschland


Warum will bei der Papstrede vor dem Deutschen Bundestag ein gutes Sechstel unserer Volksvertreter Reißaus nehmen vor dem kleinen Mann in Weiß? - Von Paul Badde / Die Welt


Rom-Berlin (kath.net/DieWelt) Nach Deutschland kommt Benedikt XVI. morgen als ein „homo historicus“ par excellence zurück. Ohne einen Blick zurück in die Geschichte ist die Wahrnehmung des Papstes in seinem Heimatland daher kaum zu erfassen. Denn Deutschland ist ja nicht Polen. Polen blieb eins, als es das Land überhaupt nicht mehr gab, Jahrhunderte lang. Die Polen haben ihre Identität unter den Zaren und den Preußen nicht verloren, auch nicht unter den Nazis oder den Bolschewiken. Deutschland hingegen blieb gespalten auch unter seinen abenteuerlichsten Einigungsprojekten. Die Deutschen, im Herzen Europas, mit den meisten Nachbarn an ihren Grenzen, treibt seit Jahrhunderten die Frage immer wieder um, wer sie eigentlich sind, woher sie kommen und wohin sie gehen. Es ist dieses Irrlichtern im Grund der deutschen Seele, das am Donnerstag ein gutes Sechstel unserer Volksvertreter vor dem kleinen Mann in Weiß Reißaus nehmen lässt, wenn er im Parlament eine Rede zu den jüdisch-christlichen Wurzeln Europas halten wird. Natürlich dürfen sie das. In einem freien Land muss nicht jeder demokratische Reife zeigen. Sprechender aber könnten die heldenhaften Parlamentarier wohl kaum unterstreichen, wenn der Papst - wenn er seinem Ruf als exzellenter Lehrer gerecht wird - an dieser Stelle auch diesen spezifischen, ja „typisch deutschen“ Mangel ansprechen wird, der unsere Nachbarn immer wieder irritiert.

Diese Identitätsschwäche hat verschiedene Wurzeln. Ihren ersten Staat begriffen die Deutschen - vor 1200 Jahren, unter Karl dem Großen, von Aachen aus! - nicht etwa als deutsches, sondern als „Römisches Reich“. Im Konflikt mit den Päpsten wurde unter Barbarossa daraus schließlich ein „Heiliges Römisches Reich“, bevor dem Gebilde erst Jahrhunderte später der Zusatz „deutscher Nation“ beigefügt wurde. Seit dem 11. Jahrhundert aber lässt sich in fast jeder Generation in Deutschland auch schon eine „Los-von-Rom“-Bewegung beobachten, die nach 1517 mit der Reformation erstmals an ihr Ziel gelangte, leider zum Preis der Kirchenspaltung - auch wenn dies den ersten Protestanten noch überhaupt nicht bewusst wurde.

Ein Mann wie Calvin etwa nahm bis zu seinem Sterbelager noch ganz selbstverständlich für sich in Anspruch, „katholisch“ zu sein. Es war die große, eine und rechtgläubige Kirche, was denn sonst, in der es halt nur diesen verdammten Konflikt mit den sturen „Papisten“ gab, die von fortschrittlichen „Katholiken“ wie Calvin oder Melanchton damals ähnlich scheel angesehen und verachtet wurden wie heute vielleicht nur noch die Piusbrüder von Hans Küng. Die Geschichte ist damit nicht stehen geblieben. Martin Luther selbst würde sich deshalb bei den Pius-Brüdern heute wahrscheinlich wohl eher zuhause fühlen und zurecht finden als in einer normalen evangelischen Gemeinde Hannovers - während der überwältigende Großteil der deutschen Katholiken inzwischen in vieler Hinsicht viel protestantischer ist, als Luther es jemals zu seinen Lebzeiten war.

Das aber lässt sich von Benedikt XVI. nun überhaupt nicht sagen. Er mag Schwierigkeiten mit der englischen Aussprache haben. Sein Französisch ist glänzend, wie sein Latein, sein Italienisch, sein Deutsch, sein Altgriechisch, sein Bairisch. Am besten aber beherrscht und spricht und versteht er heute wie kaum noch ein anderer Mensch das Katholische. Er verkörpert eine Identität, die in Europa jede nationale Dimension weit hinter sich lässt. Kein Wunder, dass er damit gerade in Deutschland vielen höchst aufreizend in die Quere kommt. Denn in seiner Heimat kommt der Papst ja nicht nur zu den Katholiken, sondern sehr bewusst zu allen Deutschen: zum alten Kern der gespaltenen Christenheit also, der sich im Land der Reformation in vieler Hinsicht wie in einem Bernstein erhalten hat – auch wenn hier Katholiken wie Protestanten den Unterschied oft kaum noch erklären können, der sie im Glauben trennt, selbst in konfessionsverschiedenen Ehen nicht. Dazu nehmen die alten Fronten der Religionskriege längst einen neuen Verlauf. Es sind nicht mehr die Katholiken und Protestanten, die hier gegeneinander stehen. Im Osten sind nach den beiden Diktaturen auf deutschem Boden überhaupt nur noch wenige von ihnen übrig geblieben und haben einer satten Mehrheit von Nihilisten und Neuheiden Platz gemacht. Die Katholiken werden das Trauma ihrer alten Spaltung nicht los und spielen in verschiedenen Lagern ständig die Reformation ein wenig nach. Und im Osten wie im Westen werden alle Christen mittlerweile von einer neuen Zivilreligion des Zeitgeistes bedrängt, deren radikale Apologeten oft erst gestern noch rasch den Segnungen des wissenschaftlichen Materialismus abgeschworen haben. Da wird der Papst schnell als Taliban geschmäht. Dennoch braucht ihn hier keiner zu fürchten.

Denn er kommt ja nicht als Kreuzfahrer nach Berlin. Er wird nicht den Reichstag in Brand setzen, und auch nicht die Uhr zurück ins vorkonfessionelle Zeitalter drehen wollen. Vor seiner Landung in Tegel ist es vielmehr höchst angebracht, daran zu erinnern, wie machtlos er ist. Bei seiner Ankunft werden zwar die Glocken aller katholischen Kirchen der deutschen Hauptstadt läuten. Über die Kirche als Ganzes kann er nicht verfügen. 1977 erklärte er bei seiner Bischofsweihe in München: „Der Bischof handelt nicht im eigenen Namen, sondern er ist Treuhänder eines anderen, Jesu Christi und seiner Kirche. Er kann daher auch nicht beliebig seine Meinung wechseln und einmal für dies, einmal für jenes eintreten. Je nachdem, wie günstig es erscheint. Er ist nicht da, seine Privatideen auszubreiten, sondern er ist ein Gesandter, der seine Botschaft zu überbringen hat, die größer ist als er. An dieser Treue wird er gemessen, sie ist sein Auftrag.“ – Da war er 50 Jahre alt. Doch an dem Auftrag hat sich für ihn nichts geändert, seit er Bischof von Rom und Nachfolger Petri geworden ist.

Im Gespräch der deutschen Katholiken untereinander und mit Rom muss es deshalb ebenso wie im Gespräch der protestantischen Kirchen mit der katholischen Kirche nicht nur um einen Dialog ohne Denkverbote gehen, sondern zunächst auch um ein Denkgebot. Nämlich eben daran zu denken, dass der Papst den deutschen Gravamina und Klagen in den allermeisten Fällen gar nicht nachgeben kann oder darf. Es übersteigt bei weitem seine Kompetenz. Ihm gehört die katholische Kirche nicht. Er gehört der katholischen Weltkirche mit ihrem Credo und ihrer Tradition, denen er dienen muss und nicht umgekehrt. Ein Papstbild, das in ihm einen allmächtigen Tyrannen sieht, den es danach dafür zu kritisieren gilt, wenn er nicht jedem Wunsch und Begehren wechselnder Mehrheiten willfährig widerfährt, führt vollkommen in die Irre. Vieles kann er einfach nicht, was die Tradition und Lehre der katholischen Kirche ihm versagen. Was er allerdings will und versucht, ist Größeres und gleichsam Unmögliches.

Dieses Vorhaben hat er kurz nach seiner Wahl, am 22. Dezember 2005, in einer Rede vor der Römischen Kurie skizziert, an die er seitdem mit bemerkenswerter Konsequenz als dem inneren Masterplan seines Pontifikats festhält. Den vielen Traditionsbrüchen der jüngeren Kirchengeschichte nämlich, die jedem Katholiken geradezu in die Augen springen und die seit dem II. Vatikanischen Konzil oft mit den Händen zu greifen sind, setzte er die radikale Forderung nach einer „Hermeneutik der Kontinuität“ entgegen. Das klingt komplizierter, als es ist. Es heißt im Kern: die katholische Kirche darf sich mit ihren Brüchen weder abfinden, noch sie überhaupt anerkennen. Sie muss vielmehr auf ihrer ungebrochenen Identität und Kontinuität bis hin zu ihrem Anfang im Kreuzesopfer Jesu Christi beharren. Die katholische Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil ist also dieselbe wie vor dem Konzil. Wer hier zwei Kirchen erkennen will, geht in die Irre, ob es nun Traditionalisten sind, die das Konzil nicht anerkennen wollen, oder Liberale, die den Bruch mit der Tradition schon fast wie eine neue Offenbarung verehren.

Es war ein höchst einsames und wagemutiges Abenteuer, das er damit begann. Doch die systematische und radikale Auslegung der gebrochenen Kirchengeschichte als eines Kontinuums setzte nicht nur schon sehr bald einen aktiven Prozess der Versöhnung mit den konservativen Pius-Brüdern auf seine Agenda, sondern in letzter Konsequenz natürlich auch ein ganz neues Verständnis der reformatorischen Ereignisse.

Darum aber ist auch in den evangelischen Kirchen jeder gut beraten, die schwierige Aussöhnung des „obersten Brückenbauers“ aus Rom mit den Traditionalisten (als den jüngsten Schismatikern) in der Tiefe als eine Art ökumenisches Pilotprojekt zu verstehen. Ein Projekt also, das sich nicht genügt, sondern auf immer größere Herausforderungen der Versöhnung zielt. Für den Papst aus dem Land der Reformation ist dies aber die Ökumene schlechthin. Schon in seiner ersten Botschaft nach der Papstwahl erklärte er als seine „vorrangige Verpflichtung“ die Aufgabe, „mit allen Kräften an der Wiederherstellung der vollen und sichtbaren Einheit aller Jünger Christi zu arbeiten“. Das darf jeder überaus ernst nehmen. Ökumene ist für Benedikt XVI. keine beliebige Option, sondern alternativlos. Die Überwindung der Spaltung erhofft und begreift er jedoch nicht als Ergebnis oder Frucht von Gremienpapieren, sondern schon in der Tiefe ans Ziel gekommen, wie Johannes Paul II. es ihm im Jahr 2000 in das Bordbuch des Kirchenschiffs zur Reise in die schwere See der Zukunft schrieb: „ Am Ende des zweiten Jahrtausends ist die Kirche erneut zur Märtyrerkirche geworden. Das Zeugnis für Christus bis hin zum Blutvergießen ist zum gemeinsamen Erbe von Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten geworden. Der Ökumenismus der Märtyrer und die Gemeinschaft der Heiligen, spricht mit lauterer Stimme als die Urheber von Spaltungen.“ Menschen wie Edith Stein und Dietrich Bonhoeffer geben also auch für Papst Benedikt XVI. vor allem vor, „wie wir in der Ökumene weiterkommen“. Als Ökumene der Liebe zur Kirche und dem gemeinsamem Ursprung in Gott.

Er wird daher in Berlin, Erfurt und Freiburg vor allem das tun, was Jesus schon Petrus aufgetragen hat: „Stärke deine Brüder“. Die heißen Eisen, die er anfassen wird, heißen: Heiligung des Lebens, Anbetung Gottes. Gott in allem zuerst! Unter den deutschen Katholiken wird er den Belangen der Weltkirche Gehör zu verschaffen suchen. Die Deutschen im Allgemeinen, die seit Jahrhunderten um ihre Identität ringen, wird er wie ein Geschichtslehrer zumindest darüber neu aufzuklären versuchen, woher sie kommen. Natürlich wird es sich lohnen, ihm dabei sorgfältig zuzuhören. Auch die Abgeordneten, die vor ihm das Weite suchen, wird er an die Präambel des deutschen Grundgesetzes erinnern, in dem sich „das deutsche Volk im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ die bisher glücklichste Verfassung unserer Geschichte gab. Da wird manchen ein wenig Nachhilfe und Nachsitzen nicht schaden.

Der Brennpunkt der Reise aber wird Erfurt sein, die Stadt, in der Luther in den priesterlichen Dienst der katholischen Kirche eintrat. So nah wie übermorgen, am Freitag, ist noch nie ein Papst dem Reformator entgegen gekommen. Dabei wird es noch mehr Überraschungen geben. Denn in mancher Hinsicht sind unsere Tage der Situation des frühen 16. Jahrhunderts ja nicht unähnlich. Damals wie heute erlebte die Welt eine Revolution der Kommunikationsmittel, heute allerdings in einem so dramatischen Ausmaß, dass der Papst vor kurzem von quasi „prähistorischen“ Zeiten sprach, in denen er 1951 zum Priester geweiht wurde. Diese Herkunft „aus prähistorischer Zeit“ aber, und eine gewisse neue Heimatlosigkeit im Zeitalter einer immer atemloseren Beschleunigung, trifft heute auf einen Großteil der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands überhaupt zu, ob katholisch, evangelisch oder gottlos.

Darum lohnt es auch, die Erwartungen an diese historische Reise heute ein wenig zu dimmen, trotz aller Aufregung im Vorfeld, die an ein Heimspiel des Papstes in seiner Heimat zunächst nicht denken lassen. Die Strapazen der Reise sind ungemein. In vier Tagen wird er 17 Reden halten. Nur in Jerusalem war sein Programm noch dichter. Warum tut er sich das alles an? Er wollte es so. Er wollte dieser Einladung nicht ausweichen. Doch ist es deshalb auch schon die letzte Berlin-Reise des 84jährigen? Könnte Benedikt XVI., der die Deutschen heute so herausfordert wie kein Mensch mehr seit Martin Luther, nicht auch in sechs Jahren noch einmal wiederkommen, zum Lutherjahr, nach Wittenberg, mit 90 Jahren? „Da wollen wir der Güte des lieben Gottes mal keine Grenzen setzen,“ hätte Joseph Ratzinger solche Überlegungen früher wohl beantwortet.



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