Das Heilige war sein Element

1. Mai 2011 in Aktuelles


Paul Badde erinnert sich zur Seligsprechung Johannes Pauls II. an Begegnungen mit diesem Papst und betrachtet die Pilgerstadt Rom


Rom (kath.net/Die Welt) Ein Donnerschlag fährt zwischen die Säulen rund um den Petersplatz, brüllend laut. Schon in dieser Woche ist das erste Frühlingsgewitter über Rom niedergegangen. Dennoch lässt der Lärm der Pilger nicht nach, mit denen die Stadt zur Seligsprechung Johannes Pauls II. vollläuft wie eine Arche.

Auch Pawel Kurylo ist eingetroffen, aus Pruska Wielka in Polen, von wo der 39-jährige Maurer die 2.300 Kilometer zu Fuß zurückgelegt hat, um die Ankunft "Lolek" Wojtylas im Himmel zu würdigen, die am heutigen Sonntag in Rom gefeiert wird. Nur sechs Jahre nach seinem Tod kommt Johannes Paul II. schon vor den Augen seiner Zeitgenossen in die ewige Zielgerade.

Karol Wojtyla wurde 1920 in Wadowice, knapp 30 Kilometer von Auschwitz, geboren, und er wurde zur Überraschung des letzten Jahrhunderts, als er mitten im Kalten Krieg am 16. Oktober 1978 zum Papst gewählt wurde. Nur Tage später rief er die Menschen aus Ost und West dazu auf, "die Tore aufzureißen" für Christus: "Habt keine Angst! Öffnet die Grenzen der Staaten, die wirtschaftlichen und politischen Systeme der rettenden Macht Christi! Habt keine Angst! Christus weiß, was im Innern des Menschen ist. Er allein weiß es!"

Doch auch er selbst wusste offenbar um die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, in Ost wie West. Es war unerhört, ungeheuerlich, ein Sprengsatz der Herzen.

Als ich ihn zwei Jahre später an einem Abend in Fulda erstmals traf, war er drei Jahre jünger als ich heute und schien noch stark wie ein junger Hirsch. Ein Athlet in den Schuhen des Fischers. Ein Jahr später durchbohrte ihn auf dem Petersplatz das Projektil eines Auftragskillers. Davon hat er sich nie mehr erholt.

Mit dieser Wunde begann er sein Lebenswerk. Als ich ihn das letzte Mal traf, fing meine Frau an zu weinen, und ich schaute in zwei Augen, die Jahrtausende zurück und nach vorn in die Ewigkeit zu reichen schienen. Kurz danach fing sein langes Sterben an, sein dramatisches Verstummen vor den Ohren und Augen der ganzen Welt.

Und jetzt? Werden zu seiner Seligsprechung so viele kommen wie zu der Prinzenhochzeit in London? Wie zu der Heiligsprechung Mutter Teresas? Da stauten sich die Pilgermassen bis weit über den Tiber zurück in die römische Innenstadt. Werden wieder so viele kommen wie nach seinem Tod? 64 Monarchen und Regierungschefs aus aller Welt wollen sich am heutigen Sonntag vor ihm verbeugen.

Von fünf Uhr in der Frühe bis vier Uhr am Nachmittag wird der Himmel am 1. Mai für jede Flugbewegung über Rom gesperrt werden. 2300 Journalisten aus 101 Ländern haben sich zusätzlich zu den rund 1000 festen Korrespondenten in Rom beim Vatikan akkreditiert, alle Fernsehsender werden über die Erhebung des letzten Papstes "zur Ehre der Altäre" berichten, auch in jene Länder, wo kaum jemand weiß, was Altäre sind und was das Ganze soll.

Doch wie viele schließlich gezählt werden - gewiss ist, dass riesige Mengen schon nachts in den Straßen um den Petersplatz ausharren, bis in der Frühe um halb sechs die Sperren geöffnet werden.

Daran werden weder Nieselregen noch Sturzregen oder Sonnenschein etwas ändern. Rom ist schon am Samstag eine polnische Stadt. Aber auch eine deutsche Stadt. Eine amerikanische, eine koreanische. Alle Sprachen gehen hier derzeit durcheinander.

Doch ist eine Seligsprechung kein demokratisches Verfahren. Über die Heiligkeit einer Person kann nicht abgestimmt werden. Silvio Berlusconi, nicht gerade ein Modell der Heiligkeit, der aber etwas von Medien versteht, träumt von über fünf Millionen Pilgern, wohl auch in Erinnerung an die vier Millionen, die nach dem Tod "Loleks" an seine Bahre strömten, in einem Fluss aus Herzen, Händen und Füßen, als nicht enden wollende Love-Parade. Wirklich: Liebe hatte sie dazu gedrängt. Keiner hatte sie gerufen.

Auch Johannes Paul II. verstand viel von Medien. Ihn jedoch einen Medienpapst zu nennen, verfehlt den Kern seines Charismas. Er war direkt und ungeheuer persönlich. In der letzten Woche lief auf dem Petersplatz und zahllosen Winkeln Roms auf Großbildschirmen ein Film, der in Endlosschleifen noch einmal eine Auswahl der vielen Orte, Stationen und Begegnungen seiner Pilgerreise zeigte und nacherzählte.

Da sieht jeder: Er wandte sich nicht über die Medien an die Menschen. Er ging und fuhr rastlos auf sie zu, zu ihnen hin. Daran ließ er sich auf 104 Auslandsreisen in 127 Länder von keiner Krankheit hindern. Es waren Individuen, zu denen er ging, und Millionen Individuen, die ihm entgegenströmten: in Polen, Brasilien, Mexiko, auf allen fünf Kontinenten. In Manila kamen am 15. Januar 1995 vier Millionen zur Feier einer Messe mit ihm, in der größten Versammlung in der Geschichte der Menschheit.

Er hatte mehr Selig- und Heiligsprechungen vorgenommen als die Päpste der letzten Jahrhunderte zusammengenommen. Schon zu seinen Lebzeiten was das Heilige sein Element. Mit Heiligen aus allen Jahrhunderten umgab er sich wie mit Freunden, in Kreisen, die sich überschnitten und überlappten wie olympische Ringe. Das war sein Labor.

Als er sein Amt antrat, gab es 750 Millionen Katholiken. Als er starb, waren es weltweit 1,2 Milliarden. 1978 gab es 200 000 katholische Priester, 2005 waren es 400 000. Er war der Brückenpapst an der Schwelle zum neuen Jahrtausend schlechthin - und als er starb, war er zum Papst auch meines Lebens geworden.

Den Applaus, der spät an jenem Samstagabend auf dem Petersplatz aufbrandete, als bekannt gegeben wurde, dass er gerade ins "Haus des Vaters" eingegangen sei, habe ich jetzt noch im Ohr. Mit meiner Frau, meinem Bruder und zwei Freunden stand ich zufällig unter seinem Fenster. Auch ich applaudierte. Geheult hatte ich eine Woche zuvor, als er oben an seinem Fenster noch einmal versuchte, die Menschen zu segnen, und nur noch ein Fauchen aus seinem Mund kam, das wie ein Sturmwind aus den Lautsprecherboxen über die Menge ging.

Es war ein Regen von Tränen, der damals auf dem Petersplatz niederging. Und weinen musste ich auch noch einmal einen Tag nach seinem Tod. Es war ein strahlender Morgen, als ich zur Sonntagsmesse auf dem Petersplatz plötzlich nur einen leichten leeren Stuhl da vorne an der Stelle sah, an den zuvor schon seit Jahren immer der schwere Rollstuhl für den Schwerstbehinderten geschoben worden war. Da sah ich: Jetzt war er ganz leicht geworden.


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