Der Papst und der Sündenbock

16. April 2011 in Deutschland


Der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff und der Sozialhistoriker Michael Philipp vor katholischen Journalisten. Von Johannes Seibel / Die Tagespost


Freiburg (kath.net/DieTagespost) Schuld, Sühne, Sündenbock, Rücktritt – diese Kategorien, die wieder in die aktuelle Debatten in Kirche und Politik hineinspielen, sind alle auch im wahrsten Sinne des Wortes durchtränkt mit einem „Akt der Reinigung“.

Das Publikum war gut gewählt: Über Sündenböcke, Schuld und Sühne in der medialen Öffentlichkeit sprachen am vergangenen Samstag der Moraltheologe Professor Eberhard Schockenhoff und der Sozialhistoriker Michael Philipp vor rund 100 katholischen Journalisten. Die Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands (GKP) hatte nach Freiburg zu ihrer Jahrestagung geladen.

Der Moraltheologe Schockenhoff kam erst spät zum Komplex Schuld in der Kirche angesichts des jüngstens Missbrauchsskandals – und exponierte sich: Für ihn sind nicht nur einzelne Täter individuell schuldig geworden in der Kirche, sondern die Kirche als Ganzes sei von dieser Schuld systemisch betroffen, womit sich der Theologe insbesondere gegen ein Kirchenbild wandte, das er bei dem „Platonisten“ – so Schockenhoff – Papst Benedikt XVI. ausgemacht haben will. Als Kardinal Joseph Ratzinger habe nämlich der heutige Papst noch im Jahr 2000 große Vorbehalte gegenüber dem öffentlichen Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. geäußert.

Der damalige Glaubenspräfekt habe argumentiert, so Schockenhoff weiter, dass die Kirche zwar eine Kirche der Sünder sein, aber die Kirche als solche nicht sündig werden könne. So habe der Kardinal Ratzinger einen „Kern“ der Kirche rein erhalten wollen, was letztlich einem klerikalen Kirchenbild einer objektiv heiligen Kirche entspreche, meinte Schockenhoff. Diese feinen Unterscheidungen seien jedoch im jüngsten Missbrauchsskandal weggeschwemmt worden, sodass es der Freiburger Moraltheologe auch eine „Ironie der Geschichte“ nannte, dass „ausgerechnet Kardinal Ratzinger als Papst Benedikt XVI.“ ein Schuldbekenntnis habe ablegen müssen. Für Schockenhoff ist die Kirche als solche schuldig geworden.

In anschließenden Kleingruppen-Diskussionen wurde dann auch die Frage diskutiert, ob die Rufe nach einem Rücktritt des Papstes in der damaligen Situation angebracht gewesen seien – die größere Mehrheit der anwesenden katholischen Journalisten in diesen Kleingruppen wollten sich einem solchen Ruf jedoch nicht anschließen.

Eine solche Forderung wäre auch durch die Argumentationslinien Schockenhoffs kaum gedeckt gewesen, die er vor seiner explizit kirchenpolitischen Exponierung gezogen hatte. Denn die Funktion eines Sündenbockes im jüdischen Sinne sei es gerade gewesen, Schuld, die auf Israel lastete, aus dieser Gemeinschaft gleichsam hinauszutragen, wobei eine solche Stellvertretung für die Schuld im Sinne eines „vorübergehenden Platzhalters“ zu verstehen sei, bis die Schuldigen im Volk Israels selbst fähig geworden seien, ihre Schuld auf sich zu nehmen und neu zu beginnen. Mit dieser religiösen Praxis sollte durch die „Zusage der Versöhnung“ die „Umkehr möglich“ und auch der Umgang mit überindividueller Schuld institutionalisiert werden können, erklärte der Moraltheologe. Das sei die positive Funktion des Sündenbockes in den alttestamentarischen Schriften gewesen.

In einer säkularen Gesellschaft aber werde dieser Moment nicht mehr wahrgenommen. Da sei der Sündenbock dann ein Opfer, das die Gesellschaft von einem Art Ersatzschuldigen zu bringen fordert, nach dessen Rücktritt der Öffentlichkeit dann „Genugtuung“ verschafft sei. „Das erspart der Gesellschaft ein kollektives Umdenken, ein allgemeiner Neuanfang erscheint nicht mehr nötig“, so Schockenhoff, wenn der Sündenbock nicht mehr als „vorläufiger Platzhalter“ von Schuld, auch überindividueller Schuld, wie sie sich im Missbrauchsskandal manifestiere, fungiere.

Und genau an dieser Stelle lässt sich fragen, um nochmals auf die in den vergangenen beiden Jahren seit dem Missbrauchsskandal an Papst Benedikt XVI. ergangenen Rücktrittsforderungen zurückzukommen: Hätte er mit einem Rücktritt – abgesehen von allen Modalitäten, die einen solchen ins Reich der Fiktion verweisen – nicht genau diesen säkularen Mechanismus bedient, der bloß Sündenböcke im Sinne von Ersatzschuldigen sucht und produziert? Und hat Papst Benedikt XVI. also dadurch, dass er die Rolle als weltweiter medialer Prügelknabe aushielt und nicht zurücktrat, nicht vielmehr die Rolle eines „vorläufigen Platzhalters“ angenommen, dessen positive religiöse Funktion als Sündenbock laut Schockenhoff ja eben darin besteht, Umkehr und Versöhnung für alle möglich zu machen? Zu dieser Debatte kam es allerdings unter den anwesenden Journalisten nicht.

Warum er gegenüber dem zeitgenössischen Verständnis und Inflation von Rücktritt im politischen Raum überhaupt eher skeptisch eingestellt ist, da sie zumeist kein Nach- und Umdenken in der Sache selbst bewirken, begründete Schockenhoff auch mit einer Frage: „Welche Instanz kann in der säkularen Gesellschaft Schuld vergeben?“. Der Theologe konnte keine benennen. Insofern sei es heute auch für Politiker so schwierig, Schuld einzugestehen, denn sie wüssten nicht, woher sie „in der gnadenlosen Öffentlichkeit Vergebung erfahren könnten“.

Michael Philipp, der in dem Buch „Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen: Politische Rücktritte in Deutschland von 1950 bis heute“ rund 250 Demissionen von Politikern untersucht hat, konnte den katholischen Journalisten keine Generalthese bieten. Er zeigte an unterschiedlichsten Fallbeispielen vielmehr, dass die Muster der Rücktritte, das Verhalten der Politiker und der Öffentlichkeit kaum generalisierbar sind, wenngleich, so Philipp, mit jedem Rücktritt eine Art „Akt der Reinigung“ verbunden sei – sei es einer Nation, einer Behörde oder einer Partei. Insofern die Politik mehr mit Religion und Kult zu tun habe, wie es uns ihr technokratisches Verhältnis heute vorgaukelt.


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