Jesus vor Pilatus

10. März 2011 in Buchtipp


Das neue Jesus-Buch von Benedikt XVI. - Die Welt hat dazu einen Auszug veröffentlicht / Von Paul Badde / Die Welt


Rom (kath.net/DieWelt)
Die Evangelien zeigen uns Pilatus als einen Mann, der brutal einzugreifen wusste, wenn ihm dies der öffentlichen Ordnung wegen angezeigt schien. Aber er wusste auch, dass Rom seine Weltherrschaft nicht zuletzt der Toleranz fremden Gottheiten gegenüber und der Frieden stiftenden Kraft des römischen Rechts verdankte. So tritt uns der römische Präfekt im Prozess Jesu gegenüber. Die Anklage, Jesus erkläre sich zum König der Juden, wog schwer. Aber von den römischen Rechts- und Herrschaftsordnungen her lag nichts Ernstliches gegen Jesus vor. Auf die Frage des Pilatus „Bist du ein König?“ antwortet Jesus: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“. Jesus definiert als Wesen seines Königtums das Zeugnis für die Wahrheit. Der Pragmatiker Pilatus frag danach verständlicherweise: „Was ist Wahrheit?“

Es ist die Frage, die auch die moderne Staatslehre stellt: Kann Politik Wahrheit als Kategorie für ihre Struktur annehmen? Oder muss sie Wahrheit als das Unzugängliche der Subjektivität überlassen und stattdessen sehen, wie sie mit den verfügbaren Instrumenten der Ordnung von Macht zu Rande kommt, um Frieden und Gerechtigkeit zu stiften? Macht sie sich nicht, auf Wahrheit setzend, angesichts der Unmöglichkeit eines Einverständnisses über die Wahrheit zum Werkzeug bestimmter Traditionen, die in Wirklichkeit doch nur Formen des Machterhalts darstellen? Aber andererseits – was geschieht, wenn Wahrheit nicht zählt? Welche Gerechtigkeit ist dann möglich? Muss es nicht gemeinsame Maßstäbe geben, die wirklich Gerechtigkeit für alle verbürgen – Maßstäbe, die der Willkür der wechselnden Meinungen und der Machtkonzentrationen entzogen sind? Ist es nicht wahr, dass die großen Diktaturen von der Macht der ideologischen Lüge gelebt haben und dass nur die Wahrheit befreien konnte?

Was ist Wahrheit? Die skeptisch hingeworfene Frage des Pragmatikers Pilatus ist eine sehr ernste Frage, in der es in der Tat um das Geschick der Menschheit geht. Was also ist Wahrheit? Können wir sie erkennen? Kann sie als Maßstab in unser Denken und Wollen herein treten, sowohl im Einzelnen wie im Leben der Gemeinschaft?

Die klassische Wahrheitsdefinition der scholastischen Philosophie bezeichnet Wahrheit als „Entsprechung zwischen Verstehen und Wirklichkeit“ (Thomas von Aquin, S. theol. I q. 21 a. 2 c).Wenn der Verstand eines Menschen eine Sache so widerspiegelt, wie sie in sich selber ist, dann hat der Mensch Wahrheit gefunden. Aber nur einen kleinen Ausschnitt aus dem, was wirklich ist – nicht die Wahrheit in ihrer Größe und als Ganze. Schon näher kommen wir an die Intention Jesu mit einem anderen Wort des heiligen Thomas heran: „Die Wahrheit ist im Intellekt Gottes im eigentlichen Sinn und zuerst. Im menschlichen Intellekt aber ist sie eigentlich und abgeleitet“ (De verit. q. 1 a. 4 c). So ergibt sich schließlich die lapidare Formel: Gott ist „die höchste und erste Wahrheit selbst“ (S. theol. I q. 16 a. 5 c).

Mit dieser Formel sind wir in der Nähe dessen, was Jesus sagt, wenn er von der Wahrheit spricht, für die zu zeugen er in die Welt gekommen ist. In der Welt sind Wahrheit und Irrtum, Wahrheit und Lüge immer wieder fast untrennbar vermischt. Die Wahrheit in ihrer ganzen Größe und Reinheit erscheint nicht. „Für die Wahrheit Zeugnis geben“ heißt darum, Gott und seinen Willen den Interessen der Welt und ihren Mächten gegenüber zur Geltung zu bringen. Gott ist der Maßstab des Seins. In diesem Sinn ist die Wahrheit der wirkliche „König“, der allen Dingen ihr Licht und ihre Größe gibt. – Denn sagen wir es ruhig: Die Unerlöstheit der Welt besteht eben in der Unlesbarkeit der Schöpfung, in der Unerkennbarkeit der Wahrheit, die dann zur Herrschaft des Pragmatischen zwingt und so die Macht der Starken zum Gott dieser Welt werden lässt.

An dieser Stelle ist man als moderner Mensch versucht zu sagen: Uns ist dank der Wissenschaft die Schöpfung lesbar geworden. In der Tat sagt beispielsweise Francis S. Collins, der das Human Genome Project leitete, mit freudigem Erstaunen: „Die Sprache Gottes war entschlüsselt“ (The Language of God, S. 99). Ja wirklich, in der großartigen Mathematik der Schöpfung, die wir im genetischen Code des Menschen heute lesen können, vernehmen wir die Sprache Gottes. Aber leider nicht die ganze Sprache. Die funktionelle Wahrheit über den Menschen ist sichtbar geworden. Aber die Wahrheit über ihn selbst – wer er ist, woher er kommt, was er soll und was das Gute ist oder das Böse – die kann man leider auf solche Weise nicht lesen. Mit der wachsenden Erkenntnis der funktionellen Wahrheit scheint vielmehr eine zunehmende Erblindung für „die Wahrheit“ selbst Hand in Hand zu gehen – für die Frage nach dem, was wir wirklich sind und was wir wirklich sollen.

Was ist Wahrheit? Diese Frage hat nicht nur Pilatus als unlösbar und für seine Aufgabe unpraktikabel beiseite geschoben. Sie wird auch heute im politischen Disput wie im Disput um die Gestaltung des Rechts meist als störend empfunden. Aber ohne Wahrheit lebt der Mensch an sich selbst vorbei, überlässt er das Feld letztlich den Stärkeren. „Erlösung“ im vollen Sinn kann nur darin bestehen, dass die Wahrheit erkennbar wird. Und sie wird erkennbar, wenn Gott erkennbar wird. Er wird erkennbar in Jesus Christus. In ihm ist Gott in die Welt hereingetreten und hat damit den Maßstab der Wahrheit inmitten der Geschichte aufgerichtet. Die Wahrheit ist äußerlich in der Welt ohnmächtig, wie Christus nach den Maßstäben der Welt ohnmächtig ist.

Den zweiten Akt des Prozesses fasst Johannes daher lakonisch in dem Satz zusammen: „Da nahm Pilatus Jesus und geißelte ihn“. Der dritte Akt ist die Dornenkrönung. Die Soldaten legen Jesus, dem am ganzen Körper Zerschlagenen und Verwundeten, die Zeichen kaiserlicher Majestät um: den purpurnen Mantel, die aus Dornen geflochtene Krone und das Zepter aus Schilf. Sie huldigen ihm: „Sei gegrüßt, König der Juden“. Ihre Huldigung besteht aus Ohrfeigen. Als diese Spottgestalt wird Jesus wieder zu Pilatus geführt, und Pilatus stellt ihn der Menge – der Menschheit – vor: „Ecce homo – seht den Menschen“. Am Ende setzt sich Pilatus auf den Richterstuhl. Noch einmal sagt er: „Seht euren König!“ Dann spricht er das Todesurteil.

Aus:
Benedikt XVI.
Jesus von Nazareth
Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung
Verlag Herder
Format: 13,9 x 21,4 cm, 368 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag und Leseband
EURO 22,70

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