Das strenge Glück der Kartäuser

24. Jänner 2011 in Spirituelles


Paul Badde besuchte das einzige deutsche Kartäuserkloster Marienau - "Stellvertretend für die vielen, die keine Zeit mehr haben für den lebendigen Gott, stehen wir vor ihm" - Von Paul Badde / Vatican-Magazin


Bad Wurzach (kath.net/Vatican-Magazin.com) Krokusse strecken sich neben einer schattigen Schneepartie des Gartens der Sonne entgegen, Vögel zwitschern in jedem Strauch. Eine Kröte hat sich an diesem ersten Frühlingstag in den kalten Kreuzgang der Kartause verirrt, wie wir, und bläst in einem Winkel des langen Flurs verängstigt die Backen auf. Hierhin kommt normalerweise kein Fremder. Keinem Manager wird erlaubt, in dieser Stille seine „Seele baumeln“ zu lassen. Kartäuser bieten ihr „strenges Glück“, wie Goethe es genannt hätte, auf keinem Marktplatz an. Doch auch für normale Mitchristen gibt es bei ihnen weder Exerzitien oder Besichtigungen, noch lassen sich die Priestermönche überreden, im nächsten Dorf ein wenig in der Seelsorge auszuhelfen. „Wir haben eine andere Aufgabe“, sagt ihr Prior, „stellvertretend für die vielen, die keine Zeit mehr haben für den lebendigen Gott, stehen wir vor ihm für sie alle ein. Unsere Seelsorge ist also weltweit!“ Dafür leben sie in bedingungsloser Hingabe, radikal zurückgezogen.

Georg Gänswein wollte Kartäuser werden, bevor der Sekretär des Papstes in einer der immer unwägbaren Weichenstellungen des Lebens in den Apostolischen Palast hinauf befördert wurde, wo er nun allerdings ebenso wenig Herr seiner Stunden ist wie ein Kartäuser – die ihre Minuten und Sekunden bei Tag und bei Nacht auf den Rhythmus des Paradieses hin verweben. Auf Fernsehen, Radio und Internet verzichten sie dafür komplett. Die Festplatte ihrer Erinnerung und Vernetzung mit der Welt und der Geschichte besteht immer noch in einer großen Bibliothek. Nacht für Nacht stehen sie um Mitternacht auf für den ersten Lobgesang. Früh am Morgen kommen sie wieder zur Eucharistiefeier in die Klosterkirche zusammen und am Nachmittag zur Vesper. Den Rest der Zeit beten, betrachten, lesen, studieren sie für sich allein – in strengem Ausgleich mit Handarbeiten in ihrer Werkstatt oder dem Garten.

Sind sie archaisch? Zeitlos? Gewiss verkörpern sie wie kaum jemand sonst eine ganz und gar ungebrochene Tradition. Alle zwei Jahre wird ihr Orden in so genannten Generalkapiteln neuen Herausforderungen und Erfordernissen immer wieder behutsam angepasst, doch alle großen Krisen haben die Kartäuser nie zu einer Anpassung an den Zeitgeist bewegen können. Sorgen um den Nachwuchs kennen sie in Deutschland nicht. Natürlich tragen sie Armbanduhren unter den langen Ärmeln ihrer groben weißen Kutten, sind wohl informiert über die Welt außerhalb der Mauern und haben keine Scheu vor technischen Hilfsmitteln aller Art (wo bestimmte Arbeiten danach verlangen). Doch sonst ist unter ihnen mehr oder weniger alles gleich geblieben seit den Tagen des heiligen Bruno von Köln, der ihren Orden im 11. Jahrhundert gegründet hat. Darum gibt es bei ihnen weder Sommerzeit noch Winterzeit, nur Zeit pur. Doch der kostbarste Stoff unseres Lebens ist ihnen nur ein Vorspiel zur Ewigkeit. „Feiern Sie denn auch noch die Tridentinische Messe?“ wollen wir von Bruder Theodor wissen. Der Pförtner lächelt. „Wir haben eine eigene, wir haben die kartusianische Liturgie. Die ist noch einmal gut 450 Jahre älter als der Tridentinische Ritus. Die Liturgiekonstitution des letzten Konzils hat daran fast nichts geändert.“ Bruder Theodor kommt aus Nordholland. „Wart ihr das nicht, die den heiligen Bonifatius erschlagen haben“, fragen wir, „den Apostel der Deutschen?“ Jetzt lacht er laut. „Ja, das waren wir. Darum bin ich wahrscheinlich auch hier.“ Hier, in dem ummauerten Gelände in einem riesigen Wald, ist der alte Schneider nun schon seit über 40 Jahren.

Ja, sie gelten als der strengste Orden der katholischen Kirche. Doch Heiterkeit und Humor sind das erste, was wir bei ihnen notieren möchten – und das Spiel des Lichts im Schatten ihrer Kreuzgänge und der offene Himmel über ihren Gärten. Wer das einmal möchte, sollte nach Buxheim ins Allgäu kommen, bei Memmingen, wo eine ehemalige Kartause in ein Museum umgewandelt wurde, deren Architektur auch 200 Jahre nach der Vertreibung der Kartäuser noch immer Licht von ihrem Geheimnis wie in einem Bernstein verwahrt. Es ist eine der heitersten Rokoko-Anlagen Süddeutschlands. Dominikus Zimmermann hat hier an einem Winkel des Kreuzgangs eine „kleine Wies’“ geschaffen, eine winzige Kapelle, wo der Auferstandene über dem Altar als Kind und Sieger in den hellen Goldgrund des Himmels fährt. Es ist ein einziges Leuchten in diesem Kleinod -– und eine sagenhafte Großzügigkeit, wo jedem Mönch für seine Zurückgezogenheit ringsum den Kreuzgang nicht nur eine Zelle, sondern ein eigenes Häuschen zur Verfügung steht: darin ein Vorraum mit einem Bild oder einer Statue Marias (die die eigentliche Herrin des Ordens ist), ein Raum mit Arbeits- und Esstisch, eine Gebetsnische, daneben ein Strohbett. Dahinter eine Werkstatt, mit dem Holz für den Winter, das jeder Mönch selbst zersägt und hackt, eine Werkbank, und ein ummauerter Garten zur eigenen Gestaltung – und all dies für nur eine Person! Wer will, zeigt sich hier, könnte die Kartäuser also auch als Erfinder des Eigenheims betrachten. Das Essen wird ihnen mittags von Kartäuserbrüdern, die einem anderen Tagsplan folgen, durch einen Schalter neben der Tür in das kleine Reich hinein gereicht. Die gegliederten Räume entsprechen fast spiegelbildlich ihrer gegliederten Zeit. Jeden Montag gehen sie zusammen im Wald spazieren, in lebhaftem Gespräch. Essen sie am Sonntag und anderen Hochfesten hingegen gemeinsam, sind sogar Löffel und Gabel aus Holz, damit kein Klappern in den „Gamellen“, in denen das Essen serviert wird, ihr Lauschen der Tischlesung stört.

Am alten Portal des „Refektoriums“ von Buxheim zeigen Schnitzereien den halben Speisezettel von damals: Brot, Gemüse, Fisch und Krustentiere, kein Fleisch, doch Bier und Wein. Daran hat sich kaum etwas geändert. Und eine Figur im Chorgestühl zeigt uns dort auch schon die Prostratio der Kartäuser, ihre eigentümliche Gebetshaltung, die sie seit dem Mittelalter beibehalten haben: ein abgewinkeltes Hingeworfen-Sein auf den Boden, wie wir es heute in Rom um den Vatikan noch oft auf den Bürgersteigen finden: in der Haltung berufsmäßiger Bettler, die noch wissen, wie man richtig liegt und fleht. Seit der Gründung des Ordens, erzählt der Prior, leben sie „von der Luft und von der Liebe“ (der Liebe großzügiger Spender vor allem, an denen es nie gefehlt hat). Doch Bettler sind sie offensichtlich nur vor Gott. So liegen sie einzeln vor dem Altar, und so liegt auch jeder Prior alle zwei Jahre vor dem Generalkapitel der großen Kartause in Frankreich, wo er gefragt wird: „Was wünschen Sie?“ „Barmherzigkeit!“ „Stehen Sie auf!“. Danach wird über seinen Wunsch beschieden, ihn von seinem Amt zu entpflichten (oder noch einmal zwei Jahre weiter machen zu lassen). Dass die Mönche immer „Sie“ zueinander sagen, ist selbstverständlich. Auch eine gewisse Form des Adels hat sich bei ihnen noch wie in einem Bernstein erhalten.

Als Elite würden sich die 300 Kartäusermönche, die es weltweit gibt, wohl dennoch kaum selbst verstehen. Sie sind selbstbewusst. Ihre Probezeit dauert bis zur endgültigen Bindung mindestens sieben Jahre, und wenn die Gemeinschaft es danach in geheimer Wahl ablehnt, jemanden feierlich für immer aufzunehmen, ist selbst der Prior machtlos. In Marienau, nicht weit von Buxheim, kommen die Mönche der einzigen Kartause Deutschlands aus neun Nationen und den verschiedensten Berufen. Einige der Priester waren auch vorher schon Akademiker. Das höchste Alter zum Eintritt beträgt 45 Jahre. „Den heiligen Bruno hätte ich nicht aufgenommen“, scherzt der Prior, „der war ja schon über 50, als er unseren Orden gründete“. Zur Marienau siedelten im Jahr 1964 die ersten Mönche aus dem Niederrhein um, wo das alte Mutterhaus die neuen Start- und Landebahnen des Düsseldorfer Flughafens blockierte.

Der Gewinn vom Verkauf der alten Parzellen ermöglichte den Mönchen damals den Erwerb ihrer Lichtung im Wald, wo sie in jenen Jahren des Konzils – und in der Hochzeit hässlichster Architekturexperimente – eine neue kleine Klosterstadt errichten ließen, streng, klassisch schön, mit dem schlichten Friedhof in der Mitte des Kreuzgangs. Ihre Bücher nahmen sie mit, eine alte Statue des heiligen Bruno aus Köln, die alte Regel und den Geist der Gründung. „Welchen Gewinn und göttlichen Genuss die Einsamkeit und das Schweigen der Einöde denen bereiten, die sie lieben, wissen nur jene, die es erfahren haben“, schrieb Guigo von Chastel fast 50 Jahre nach der Gründung des Ordens um 1130 in ihrer Regel und auch dies: „Das arme Leben in Einsamkeit ist zu Beginn schwer, wird mit der Zeit leicht, und am Ende himmlisch.“ Stimmt das noch? Ja, sagt der Prior, doch die Prüfungen seien schwer. „Die meisten gehen wieder. Der Orden bleibt. Einige verlassen uns nach Stunden, andere nach Tagen, manche erst nach 20 Jahren.“ So spät noch? Wie kommt es da noch zur Trennung? „Wie in einer Ehe“, sagt der Mönch, „wenn der Dialog verkümmert und irgendwann aufhört.“ Der Dialog mit den Männern dieses Schweigeordens? „Nein, nein, der Dialog mit Gott natürlich. Das Leben eines Kartäusers ergibt doch nur Sinn durch dieses ständige Gespräch mit ihm, selbst wenn wir hadern und streiten, selbst wenn wir ihn zur Not verzweifelt anschreien. Doch es ist aus, wenn wir anfangen, ihn anzuschweigen! Das ist das Ende. Wir leben doch eine Liebesgeschichte. Wie sonst ließen sich die Härten ertragen und die Einsamkeit? Wir warten doch Tag und Nacht auf nichts anders als dies: eines Tages dem, der mich liebt, in die Augen zu sehen.“


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