10 Jahre Wikipedia: Nicht nur eine Erfolgsgeschichte

18. Jänner 2011 in Aktuelles


Onlinelexikon ist unverzichtbar, aber nicht unbedenklich – Der Mainstream ist linksliberal – Christen sollen sich verstärkt unter den Autoren einbringen, um Neutralität zu gewährleisten. Ein Kommentar von Dr. Gerrit Hohage


Mannheim (kath.net/idea) Am 15. Januar 2001 ging das Lexikon www.wikipedia.org online. Inzwischen verzeichnet das angeblich „größte Werk der Menschen“ (so „DIE ZEIT“) weltweit über 16 Millionen Einträge. Doch nicht jedem Nutzer – und schon gar nicht jedem Christen – ist zum Feiern zumute. Die Enzyklopädie hat sich Dr. Gerrit Hohage, Pfarrer der Bonhoeffergemeinde Hemsbach bei Mannheim, genauer angeschaut.


"Dienstagnachmittag. In wenigen Minuten habe ich den Gemeindekreis zu halten. Thema: Johann Hinrich Wichern und das Rauhe Haus. Meine Literatur ist lückenhaft. In der Hand halte ich die altehrwürdige „RGG“ („Die Religion in Geschichte und Gegenwart“) – ein halbmeterstarkes, meist staubbedecktes Handwörterbuch, unter uns Pfarrern wohlbekannt. Und (zu) alt. Ich brauche mehr und aktuellere Informationen, und zwar sofort. In der Welt des Internet kein Problem: Rasch http://de.wikipedia.org getippt, schon finde ich mich wieder in der Welt des Wissens. Wikipedia: Eine Online-Enzyklopädie, gegründet von Jimmy Wales mit der Vision, dass Wissen für jeden frei zugänglich sein sollte – und es jedem möglich sein sollte, am Wissen der Menschheit mitzuarbeiten. Seitdem beteiligen sich Hunderttausende freiwillige Autoren rund um den Globus an diesem Projekt.

Jeder kann mitschreiben

In meinem Handwörterbuch hatte noch jeder Artikel einen Autor. Die Herausgeber und der Verlag verantworteten den Inhalt. Streng genommen gibt das Buch also deren Wissen wieder – und zwar zum Zeitpunkt der Drucklegung. Ein Wikipedia-Artikel dagegen hat (theoretisch) unbegrenzt viele Autoren. Ein Klick auf die „Versionsgeschichte“ eines Artikels bringt die Autoren und ihren jeweiligen Anteil zum Vorschein. Auf diese Weise sammelt sich das Wissen von vielen Menschen unterschiedlichster Couleur. Und wenn ich etwas dazu beitrage, dann kommt auch mein Wissen dazu: Der Leser ist der Autor! Jeder kann (theoretisch) jeden Artikel fortschreiben, wenn auch die Wirklichkeit manchmal etwas anders aussieht. Freies Wissen ist Wissen im Fluss, der immerwährenden Entstehung und Veränderung unterworfen. Ein Wikipedia-Artikel ist niemals fertig. Das ist der Hauptunterschied zu herkömmlichen Enzyklopädien, und er hat die Kultur des Wissens in unserer Informationsgesellschaft in den letzten Jahren tiefgreifend verändert.

Die Wikipedia macht Wissen aus allen denkbaren Bereichen in Sekundenschnelle jedem zugänglich, der einen Computer oder auch nur ein internetfähiges Handy hat. Fast 1,2 Millionen Artikel wurden von knapp 100.000 freiwilligen Autoren in der deutschsprachigen Wikipedia verfasst. Nur die englischsprachige Wikipedia enthält mit 3,5 Millionen noch mehr Artikel. Über 270 Sprachen sind an der Verbreitung freien Wissens beteiligt. Studien bescheinigen den Artikeln im Ganzen eine Qualität, die es mit den Traditionsenzyklopädien von Brockhaus und Meyer aufnehmen kann, auch wenn es zwischen den Beiträgen starke qualitative Schwankungen gibt.

Wissen ist Macht. Aber wer hat die Macht?

Inzwischen ist die Wikipedia fester Bestandteil des politischen und kulturellen Lebens. Schüler, Studenten, Journalisten – fast jeder nutzt sie zur Recherche. Denn ihr Inhalt ist sekundenschnell verfügbar und kostenlos, im Gegensatz zu den meisten Archiven. Auch Politiker informieren sich in ihr – in mehreren Fällen wurde sogar politisches Vorgehen nachweislich durch den Inhalt von Wikipedia-Artikeln bestimmt. Wissen ist Macht. Wissen machen ist Macht. Welches Wissen aber wird hier gemacht?

Die Wikipedia als Enzyklopädie sammelt nicht jedes, sondern nur „gesichertes Wissen“. Alles, was ein Autor in einen Artikel hineinschreibt, muss mit „reputablen“ Quellen (wissenschaftliche Literatur, Medienrecherchen) belegt werden. Das ist eine wichtige Einschränkung. Abgebildet wird also nicht die Welt, wie sie ist, sondern die in (möglichst) wissenschaftlicher Literatur belegte Welt. Was sich in dieser nicht findet, findet als „Theoriefindung“ keine Aufnahme in die Wikipedia – selbst wenn es richtig wäre! Wenn man etwas Unbelegtes einfügt, wird es „revertiert“ – d. h. die Änderung wird von einem anderen Autor gelöscht. Wiederum gehört es zum Schwierigsten, etwas zu löschen, was zwar falsch, aber irgendwo belegt ist.

Das kann bisweilen groteske Blüten treiben. Irgendein Spaßvogel fügte z. B. zu den zehn Vornamen von Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in dessen Artikel unbemerkt einen elften hinzu – just zu einem Zeitpunkt, als Journalisten verschiedener Tageszeitungen über ihn recherchierten (natürlich in der Wikipedia). Als ein richtig informierter Autor dort den falschen Vornamen bemerkte und löschte, war er bereits in mehreren Tageszeitungen erschienen. Seine Löschung wurde daraufhin rückgängig gemacht: Der Name sei doch durch mehrere Zeitungen belegt. Es dauerte geraume Zeit, bis der entstandene (falsche) Informationszirkel behoben werden konnte. Doch nicht immer gelingt das: Irrtümer in Literatur (die es natürlich gibt) können sich darum in der Wikipedia fortpflanzen und werden in die Gedankenkonstruktion, die die Öffentlichkeit für die Wirklichkeit hält, übernommen. Gestärkt wird dadurch vor allem der „Mainstream“ der Meinungsmacher.

Wikipedia-Artikel muss man kritisch lesen!

Das zeigt: Wikipedia-Artikel müssen kritisch gelesen werden. Man kann ihnen keineswegs blindlings vertrauen. Ein Artikel ist nur so gut wie die Freiwilligen, die daran gearbeitet haben. Für eine Falschinformation steht niemand gerade. Wie genau manche Passagen zustande kamen, lässt sich manchmal nur schwer nachvollziehen. Wer sich auskennt, findet jedoch in der Versionsgeschichte der Artikel Hinweise. Das Projekt „Wiki-watch.de“ – eine Internet-Seite der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder – arbeitet sie technisch auf und macht sie transparent, etwa anhand der Qualität der Belege und der Zahl der beteiligten Autoren. So gelten sogenannte „Edit-Kriege“ (mehrfaches Hin- und Hereditieren) oder Artikelsperren als Zeichen für die Umstrittenheit (und damit auch inhaltliche Unsicherheit) von Beiträgen. Eine Bewertung nach einem 10-Punkte-System zeigt, wie weit den Informationen Vertrauen entgegengebracht werden kann. Mithilfe von „Wiki-Trust“ lässt sich per Mausklick ermitteln, wann und von wem umstrittene Passagen in den Artikel eingefügt wurden.

Hinter manchen Artikeln stecken schwere Konflikte

Hinter manchen Artikeln stecken jahrelange schwere Konflikte zwischen Autoren mit unterschiedlichen Auffassungen. Die Informationen sollten zwar stets aus einem „neutralen Standpunkt“ heraus (im Wiki-Jargon: NPOV, für engl.: neutral point of view) dargestellt werden. Tatsächlich bringt aber jeder Autor seinen eigenen Standpunkt mit ein. Idealerweise bildet sich die Neutralität eines Artikels im Diskurs mit anderen Autoren heraus. Faktisch kommt es hier mitunter zu verbissenen Kämpfen – z. B. im Artikel „Neoliberalismus“, über den die alternative „tageszeitung“ (taz, Berlin) unlängst berichtete. Eine gesamtgesellschaftliche Debatte spiegelte sich in der Diskussion, ob dieses Wort ein negativ besetzter Kampfbegriff für Sozialabbau ist oder eine sachliche Benennung für ein Wirtschaftskonzept einer politischen Partei. Die erbitterte Auseinandersetzung führte zu Artikel- und Benutzersperren und zu hitzigen Wortgefechten auf der Diskussionsseite, die alle im Volltext archiviert werden und so lange nachlesbar sind, wie es die Wikipedia gibt (!). Rund um den Kontext „evangelikal“ gibt es ähnliche Szenarien. Hier wird die Frage, wer das Wissen macht, brisant: Welche Ansicht setzt sich im Zweifelsfall durch, erhält also den Status einer Quelle für die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit?

Nur wenige entscheiden, was reinkommt

In dieser Hinsicht hat das basisdemokratisch-romantische Bild des freien, von jedem mitgestaltbaren Wissens tiefe Risse erhalten. In der Wikipedia lässt sich beobachten, wie „herrschaftsfreie Diskurse“ von selbst zu Machtstrukturen führen, die in Oligarchie (die Herrschaft von Wenigen) münden. Für Soziologen ist die Autorengemeinschaft darum längst zum Forschungsobjekt geworden: Das soziale System produziert Über- und Untergeordnete, „Meinungsmacher“ und „Outlaws“ (Ausgeschlossene), sogar standardisierte „Störenfriede“. Über den Gehalt eines Artikels entscheiden letztlich vergleichsweise wenige Wikipedia-Autoren – diejenigen, die sich z. B. aufgrund ihrer intensiven Beteiligung eine starke Stellung erarbeitet haben.

Die Mehrheit denkt linksliberal

Eine besondere Rolle kommt dabei den ca. 300 Administratoren zu – von den Wikipedia-Autoren gewählte Freiwillige, die für die Einhaltung der Regeln sorgen. Sie entscheiden im Konfliktfall über Artikel- und Autorensperrungen und darum mittelbar über das, was hinterher in einem Beitrag zu lesen ist. „Wiki-Watch“ fand in einer (allerdings nicht repräsentativen) Umfrage heraus, dass die Mehrheit der Administratoren männlich ist und linksliberal denkt. Und auch wenn der einzelne Administrator mit seiner Einzelfallentscheidung in der Masse verschwindet, lässt sich statistisch dennoch eine „mentale Richtung“ ablesen.

Im Pool des freien Wissens darf daher die christliche Stimme nicht fehlen. Die Wikipedia ist wie ein antiker Marktplatz (vgl. Apostelgeschichte 17,16ff.). Viele Perspektiven der Wirklichkeit kommen hier zur Sprache. Wenn das Wissen der Christenheit hier nicht eingebracht wird, läuft sie Gefahr, in der Informationsgesellschaft unterzugehen! Wir werden dann schlicht nicht mehr zur Kenntnis genommen, geschweige denn in unseren Anliegen verstanden. Es sind aber nach wie vor nur wenige Christen als Autoren in der Wikipedia aktiv.

… und wo sind die Christen, die mitschreiben?

Besonders Christen mit wissenschaftlichen Kompetenzen (aber nicht nur sie) können und sollten hier einen wichtigen Dienst für unsere Gesellschaft leisten, indem sie sich als (kostenfreie) Benutzer anmelden und an der Bearbeitung von Artikeln mitwirken. Sie könnten beispielweise die Ergebnisse von Fachliteratur mit christlichem Standpunkt einbringen, Fehler korrigieren und negative Wertungen (die sich etwa im evangelikalen Kontext immer wieder finden) zur Neutralität hin verändern. Auch in der Sozialgemeinschaft der Wikipedianer sollte man uns Christen erkennen als das, was wir sind: besonnene Nachfolger Jesu, angetrieben von seiner Liebe."


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