Der wundersame Schleier der Madonna

24. Dezember 2010 in Chronik


Befindet sich ein Byssus-Schleier von der Mutter Jesu in Assisi? – Muschelseidenweberin nennt die Reliquie ein Wunderwerk - Von Paul Badde / Die Welt


Assisi (kath.net/Die Welt) Morgenrosa, anders lässt es sich gar nicht sagen, wölbte sich in der Frühe des 8. Dezember über Assisi, höchst zart, fein: „marianisch“. Denn als „Morgenröte“ wurde die Jungfrau Maria ja Jahrhunderte lang in Europa verehrt. In diesem Begriff ging sie der Ankunft ihres Sohnes voraus wie der erste rote Streif am Horizont dem hellen Licht des nächsten Tages. Zahllose Lieder, Legenden und Gebete ranken sich um die einflussreichste Frau der Weltgeschichte. Nur von ihr selbst hat sich kein einziges Haar erhalten, kein Fingernagel, kein Knochen, nichts. Darum sind wir nach Assisi gefahren.

Denn für einen Zipfel ihres Schleiers wurde einmal die Kathedrale von Chartres errichtet. Ein anderer Zipfel hat zum Bau der Kathedrale von Toledo geführt. Im Osten hatte der Schleier Marias als Palladium des byzantinischen Reiches gegolten. Im Krieg mit den Bulgaren wickelte Kaiser Simeon sich das zarte Gewebe im Jahr 923 um den Kopf und hat „dadurch den Barbaren in Schrecken gesetzt“, wie Johann Christoph Krause 1793 in Halle in seiner „Geschichte der wichtigsten Begebenheiten des heutigen Europa“ festhielt. Zwar kann den Glauben, dass Überreste der Kleidung Mariens überhaupt überlebt haben könnten, längst kaum noch jemand teilen - weder innerhalb noch außerhalb der Christenheit - dennoch haben etliche dieser Gewebe in einem Dornröschenschlaf alle Kriege überdauert. Und jedes Jahr am 15. August (am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel) und am 8. Dezember (dem Fest ihrer Unbefleckten Empfängnis) wird in Assisi einen Tag lang der komplette Schleier Mariens in einer Seitenkapelle ausgestellt.

Das VELUM BEATAE MARIAE VIRGINIS ruht hinter Kristall in einem schweren Reliquiar aus Gold und Silber und ist aus Byssus, der legendären Muschelseide, dem „Gold der Meere“ der Antike, gewebt. Die Fäden wurden aus den Haftfäden der „Edlen Steckmuschel“ (Pinna Nobilis) gewonnen und gesponnen. Der Vorhang im Jerusalemer Tempel war aus Purpur und Byssus gefertigt. Für die Teppiche des Allerheiligsten und das Gewand des Hohen Priesters war Muschelseide vorgeschrieben. Dichter und Gelehrte haben seinen Goldglanz beschrieben. Junge Mädchen flochten sich die transparenten Fäden in ihre Locken, um sich mit ihrem verborgenen Glanz für junge Männer unwiderstehlich zu machen. Das Material ist auf einzigartige Weise lichtaktiv.

Zwischen 1300 und 1600 scheint es unter den Malerfürsten Europas als Königsdisziplin gegolten zu haben, in Porträts der Madonna gerade ihren Byssusschleier naturgetreu abzubilden – als eine Art Darstellung des Unsichtbaren! Im Museum des Konvents von Assisi liegt ein Jesuskind in Byssuswindeln im Stroh – aus der Malerschule Pier Francesco Fiorentinos vom Ende des 15. Jahrhunderts.

Zu der Zeit befand sich das Original schon rund 300 Jahre im Konvent des heiligen Franziskus. Davor wurde das Gewebe zuletzt in Berichten lateinischer Kreuzfahrer erwähnt, die es neben dem Grabtuch Christi, das heute in Turin verwahrt wird, im kaiserlichen Blachernen-Palast in Konstantinopel gesehen hatten - bevor sie den Palast mitsamt seiner Kapelle am 12. und 13. April 1204 plünderten und seine Schätze auf vielen Wegen und Schiffen nach Europa verschleppten. Es war eine west-östliche Katastrophe. Die genauen Umstände vom Raub des Grabtuchs Christi bleiben bis heute mysteriös, die Spuren seines Weges ins Abendland vage. Das gilt erst recht für Spuren dieses zarten Schleiers.

Im Inventar des Konvents heißt es, ein Graf Tommaso degli Orsini aus Manoppello in den Abruzzen habe im Jahr 1320 den Schleier der Basilika geschenkt. Er habe ihn von einem gewissen Pacià aus Damaskus erhalten, einem Kriegsgefangenen, der es auf dem letzten Kreuzzug „in einer Kirche aus Jerusalem“ entwendet habe. Eine hoffnungslose Krankheit, von der er unerklärlicherweise genesen sei, habe ihn veranlasst, den zarten Schal aus Dank der Kirche des heiligen Franz zu schenken, wo er seitdem viele Wunder gewirkt habe, nicht zuletzt zum Schutz der Stadt in jeder Bedrohung. - Und jetzt? Was tun mit dem Anblick des Schleiers in einer Zeit, wo Wunder nicht mehr geglaubt werden können, auch nicht von Realisten (die dieser Glaube nach David Ben Gurion doch besonders auszeichnen soll)? Was tun, wenn es selbst mit dem Staunen hapert? Da hilft nur eins: fotografieren!

Alles ist kostbar an dem geöffneten Schrein über dem Tabernakel, in dem die Reliquie heute ausgestellt wird. Ein burgund-brokatener Hintergrund. Ein Fresko Giottos darüber: Maria mit dem Kind. Der Schleier selbst: eher ein Netz als ein Tuch auf seidenem Hintergrund, blass bronze, silbern, golden – byssusfarben. Eine rätselhaft geflochtene Schnur mit einem goldenen und einem smaragdgrünen Faden mit goldener Quaste hängt über der linken Seite herab. Sind da nicht Perlen hinein verwoben? Es ist ein raffiniert verknotetes filigranes Mysterium, unergründlich. Der Blick gleitet ab.

Der Schleier bietet der Kamera fast kein Gegenüber, und keinen Widerstand, kein Spektakulum. Nur immaterielle Transparenz, ohne Bild, ohne Muster. Kein Wunder, dass es keine Fotos dieses Schmuckstücks gibt, aber natürlich auch keine Untersuchungen des alten Palladiums des Oströmischen Reiches. Die Wissenschaft hat sich noch nie dafür interessiert.

Der Schleier rührt jetzt allerdings auch keinen Pilger mehr. Eine alte Frau betet einen Rosenkranz rechts davor an der Chorschranke. Alle anderen haben die Augen woanders und drehen dem Schleier den Rücken zu. Denn die Unterkirche der Basilika ist ja eine Art Sixtinischer Kapelle Umbriens, voller Meisterwerke Giottos, Cavallinis, Lorenzettis und ihrer Schüler. Hier dreht sich keiner nach einem heiligen Spinnengewebe um.

Dass Generationen von Menschen glaubten, die Mutter des Erlösers habe diesen Schleier einmal um ihr Haar gewickelt, scheint von dem Stoff vollständig abgeglitten. Es ist allerdings auch nicht so, dass die Menschen nicht immer schon skeptisch hinsichtlich seiner Herkunft gewesen wären.

Selbst Heilige taten sich schwer mit dem Stoff. Guiseppe da Copertino etwa, ein Franziskaner, der im 17. Jahrhundert so populär war wie zuletzt Pater Pio, erblickte in einer Ekstasen die Madonna und fragte, ob sie diesen Schleier denn auch wirklich getragen habe. „Glaub mir, mein Sohn. Das ist mein Schleier“, antwortete sie ihm, „ich habe ihn benutzt, um meinen Säugling darin einzuwickeln.“ Drei Weise aus dem Osten hätten ihr nicht nur Weihrauch und Myrre, sondern auch dieses Gewebe nach Bethlehem mitgebracht, das Gold der Meere. Guiseppe, muss man dazu wissen, war zu jener Zeit für rund 14 Jahre zur Sicherheitsverwahrung nach Assisi verbracht worden, weil er der Heiligen Inquisition und seinen Mitbrüdern nicht ganz geheuer war. Er galt als eine Art heiliger Depp, dumm wie Stroh, weil er keine Prüfung schaffte, aber viele Wunder tat, wunderlich und wundersam. Legenden umflattern den Mystiker wie Schmetterlinge. Heute wäre er wohl in der Psychiatrie gelandet.

Doch heute sagt Chiara Vigo, die letzte Muschelseidenweberin der Welt, aus Sant’Antioco in Sardinien, der wir unsere Fotos später vorlegen, dieser Schleier sei schlicht ein Wunderwerk („una meraviglia“). Wie ein Stern weise seine Webart auf Mesopotamien hin. Das Stück stammt aus dem Morgenland.




Foto: (c) PAUL BADDE


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