Die Kirchenfeste sind Fenster in die Ewigkeit

23. Dezember 2010 in Spirituelles


Vom lutherischen Buben über den kritischen Jugendlichen zum katholischen Erwachsenen – Die notwendige Renaissance des Kirchenjahres und seiner Feste – Von Ingo Langner / Die Tagespost


Berlin (kath.net/DieTagespost) Weihnachten steht vor der Tür. Dass das kirchliche Hochfest bald entzaubert ist, noch als Familienfest überlebt, das als ein Fastnichts zu enden droht – diese säkularisierende Erfahrung machen nicht wenige Deutsche in ihrem Leben. Deshalb braucht es dringend eine wirklich christliche Renaissance des Kirchenjahres und seiner Kirchenfeste. Das sagt ein Autor, der als Kind Weihnachten idyllisch evangelisch feierte, dann als junger Mann stramm links agitierte, das Fest aus den Augen verlor, um später die römisch-katholische Kirche kennenzulernen, wo er das Kirchenfest als Geburt des Herrn wiederfand.

Als Kind geht man ja einfach mit. Auch in die Kirche. Und zu Weihnachten sowieso. In den Fünfziger Jahren ist das ohnehin noch ganz und gar selbstverständlich. Darüber diskutiert man nicht. Und ironische, fragende, hinterfragende Zeitungsartikel, die den Weihnachtsfestkirchgang zu einem Problem erklären, dem man sich nur mit diversen und mehr oder weniger intellektuell redlichen Klimmzügen zu nähern wagt – und die heute den Medienmarkt überschwemmen – existieren damals nicht.

Zumindest nicht in der Welt des Fünfjährigen, der im Jahre des Herrn eintausendneunhundertsechsundfünfzig zwischen Vater und Mutter in der Kirchenbank sitzt – seine Füße baumeln noch einiges über dem kühlen Steinboden – und verzückt in das Kerzenmeer einer Riesentanne starrt. Ist es der innigen Stimmung geschuldet oder seinen vor Kälte und Müdigkeit tränenfeuchten Augen? Gleichviel: Der mirakulöse Lichtschleierzauber wird ihm zum innigen Sinnbild für Weihnachten überhaupt.

Bald nur noch den Eltern zuliebe in der Kirche

So ein Licht, denkt der Knabe, muss wohl einst auch über dem Stall und dem Kind und dem hochheiligen Paar gewesen sein. Nein, so denkt er gar nicht. Sein Denken geht gar nicht zurück in die Zeit. Er überbrückt in seinen Gedanken keineswegs, wie es Erwachsene tun und sich dabei weltzugewandt aufgeklärt dünken, runde zweitausend Jahre. Der Knabe ist, ohne von Theologie oder Zeit und Raum oder Ewigkeit überhaupt nur die Spur einer Ahnung zu haben, ausschließlich im Hier und Jetzt. Und jene ihm schon dunkel bekannte Geschichte, die wie in seinen geliebten Märchen mit diesem geheimnisvoll raunenden Ton anhebt – „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet werde“ – die geschah nicht einst und woanders, sondern geschieht jetzt und hier, in diesem Augenblick. Vor seinen tränenden Augen. An genau diesem Heiligen Abend singen die Engel „Ehre sei Gott in der Höhe“, und es ist Friede auf Erden, und bald wird es in banger Vorfreude an der Hand seiner Eltern heimwärts gehen. Hinaus aus der lutherischen Christkirche und hinein in die ofengeheizte Stube, wo unter der häuslichen mit Lametta und Kugeln geschmückten Tanne der Weihnachtsmann – denn bei einem im Holsteinischen evangelisch getauften Kind kommt kein Christkind vorbei – hoffentlich einiges von dem gebracht hat, was das kindliche Herz so sehr begehrt.

Doch aus Fünf- werden Sechsjährige und wenn – was Gott verhüte - kein tödliches Unglück geschieht, geht das Jahr um Jahr immer so weiter und bald ist der Knirps im Stimmbruch und in den wilden Sechzigern konfirmiert, und irgendwann naht die Zeit, wo er sich nur noch den Eltern zuliebe zu Weihnachten in die Kirche setzt, und wenn er nun dort mit widerborstigem Sinne hockt und die ihm nun so erstaunlich schal gewordenen Sätze vom Frieden hört – während doch draußen der Vietnamkrieg oder irgend ein anderer Tag für Tag die Friedensbotschaft zu dementieren scheint – dann kommt ihm der gute alte und immer noch hochgewachsene Lichterbaum „irgendwie unehrlich“ vor.

Mit anderen Worten: die Zeit des scheinbar hochmoralischen Egos ist da, die nahezu alle Heranwachsenden befällt, wie Windpocken, Scharlach und Mumps die ganz Kleinen, und aus der leider so viele niemals wieder herausfinden. Auch als Erwachsene nicht. Erst recht nicht, wenn die eigene Pseudomoral mit einem Gemisch aus Dünkel und Lesefrüchten über die Jahre wächst und fett wird und zu jener Maske erstarrt, die im Westen Europas unter dem Namen „aufgeklärte Moderne“ zum Allgemeinplatz geworden ist.

Die Sinnentleerung wird kaum richtig verstanden

Für einen solcherart kritisch Gewordenen, der es als evangelischer Knabe ohnehin nur gewohnt war, am Heiligen Abend und als Schüler im Klassenverband am Reformationstag, diesem Fronleichnamsersatz der Protestanten, in die Kirche zu gehen, schnurrt nicht bloß Weihnachten, nein, schnurren eigentlich alle jahreszeitlichen Festtage zu einem Fastnichts zusammen, das wie im Fluge vergeht. Für den nämlich, der Weihnachten nicht mehr als Geburt Christi feiert, sondern als säkulares Familienfest, mithin als unheilige freie Tage begeht, für den rauscht es vorbei wie ein Schnellzug durchs Dorf. Für den ist die Vorbereitung darauf immer nur „Stress“. So einer nennt die vier Adventswochen auch bereits Weihnachtszeit, und bei dem liegen die Christbäume schon am 26. Dezember als Biomüll vor dem Haus.

Wer das Kirchenjahr mit einem weltlichen Kalender verwechselt, denkt nur noch horizontal. Für „die Welt“ ist die Vertikale bekanntlich bloß eine mathematische Größe. „Ewigkeit“ ist für positivistisch verkrüppeltes Denken Schall und Rauch und kommt nur noch in Übertreibungen vor: „Wo bleibst du denn? Wir haben ewig auf Dich gewartet!“ Anders gesagt, das Leben ist bar jedes spirituellen Sinns. Es „materialisiert“ sich gewissermaßen unter Hand. Was bleibt ist „Konsum“. Über den alle jammern. Doch den abzustellen niemand die Kraft hat, weil er zur Schwerkraft geworden ist, die wie ein Malstrom alles mit sich in den Orkus reißt.

Wem das Weihnachtsfest erst schal und dann sinnlos wird, der braucht auch kein Ostern mehr und Pfingsten ist ihm erst recht Hekuba. Manche bemerken die fortschreitende Sinnentleerung nie. Manche leiden darunter, wissen jedoch nicht woran. Andere stößt der zu frühe Tod eines geliebten Menschen in eine neue Dimension. So widerfährt es unserem längst zum Manne gereiften lutherischen Knaben, und er hat – unverdient oder nicht – das Glück, dem unerbittlichen Schicksal an einem Ort ausgeliefert worden zu sein, auf dem gleich visavis von seinem Haus eine katholische Kirche steht. Die ist tagsüber immer offen. An ihrem Marienaltar brennen tagein, tagaus Kerzen. Bald stellt er selbst welche dazu und wundert sich allmählich immer weniger über den Trost, der von diesem doch eigentlich eher schlichten Akt ausgeht. Von der Gottesmutter im Goldkranz da vorne geht eine Kraft aus, die bald derjenigen gleicht, die er als Kind ganz naiv in der Weihnachtschristkirche gespürt und geliebt und wie er bald merkt, tief in seinem Herzen verborgen schon lange vermisste.

Seine Konversion in die römisch-katholische Kirche fühlt sich an, als sei er nach Hause gekommen. Staunend bemerkt er, dass man dort nicht nur zu Weihnachten in die Kirche geht, sondern jeden Sonntag. Ja, er kann es sogar alltags tun. Und so taucht er nach und nach ein in eine vollkommen neue Welt und stellt zu seiner nicht geringen Überraschung fest: Sie ist voller Wunder. Die Geburt des Jesusknaben im Stall erzählt vom Fleisch gewordenen Gotteswort. Ostern von der Auferstehung von den Toten. Pfingsten vom Missionsfeuer des Heiligen Geistes. Aber das ist ja noch längst nicht alles. Die Marienfeste, sinnfällig übers Jahr verteilt, haben alle ihren sehr besonderen Akzent und gleichen Perlen auf einer Schnur. Und die Märtyrer und Heiligen erzählen davon, was Menschen alles vermögen und zeigen an: der Christengott ist ein Gott der Lebenden und nicht der Toten.

Wer sich intensiv mit dem auseinandersetzt, was entsteht, wenn die Vertikale das Horizontale kreuzt, ahnt schon im Diesseits etwas von jenseitigen Dimensionen. Alles zusammengenommen ist das dann keine mathematisch verifizierbare Menge mehr, sondern ein Mehrwert der besonderen Art. Die großen und kleinen Kirchenfeste sind etwas zwischen Himmel und Erde und weit mehr, als rein naturwissenschaftlich gestimmte Schulweisheit je träumen wird. Sie ähneln einem Myzel: Was über der Erde als Pilz scheinbar vereinzelt und ganz allein nur so für sich herumsteht, ist unterirdisch auf subtile Weise miteinander verwoben und bezieht Lebenskraft aus dem fürs Auge unsichtbaren Wurzelgewirr.

Der Mensch lernt sich im Fest als Ebenbild Gottes kennen

So ist es auch mit den Heiligen Messen des Kirchenjahres. Gotteslob ist Sinn und Zweck in sich. Eine Logik in der gewachsenen liturgischen Ordnung zu finden, die über historische Erklärungen hinausgeht, erfordert allerdings Sinn für Poesie und das Aushalten einer gewissen Absichtslosigkeit, die dem christlichen Gottesdienst innewohnt. Wie im Traum ist hier alles Ahnung, Anklang und Ähnlichkeit. Alles das ist dem grassierenden Zeitgeist verschlossen. Postmodernes Denken kann Geschichte nur als Erzähltes, als bereits Abgeschlossenes verstehen. Die Konsequenz daraus ist ein fortschreitender Verlust alles Lebendigen und jedweder Metaphysik. Ein Verlust, den auch vielfältige Akte der Dekonstruktion nicht beheben können.

Wer Weihnachten ohne Christus, Ostern ohne die Auferstehung, Pfingsten ohne den Heiligen Geist wahrnimmt, ist ein Toter auf Urlaub. Er steht zwar noch mit einem Bein in dem, was derzeit so gerne christliches Abendland genannt wird, aber für die Tür zur Ewigkeit fehlt ihm das Sesam-öffne-dich. „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort.“ Joseph von Eichendorff wusste, was er mit seinem Vers sagen wollte. Ein bloß nach dem Stand einer endlichen Sonne geordnetes Jahr ist entzauberte und tatsächlich sinnlose Zeit. Erst das Kirchenjahr, das mit dem ersten Adventsonntag beginnt und mit Christkönig endet, gibt einem Menschen die Existenzform, die ihm als Gottes Ebenbild zukommt. Gesegnet, wer das nicht nur versteht, sondern mit der ganzen Kraft seines Herzens begreift. Oder um es mit Papst Benedikt XVI. zu sagen: „Alle reden davon, dass wir keine Zeit haben, da der Rhythmus des alltäglichen Lebens für alle so hektisch geworden ist. Auch diesbezüglich bringt die Kirche eine gute Nachricht: Gott schenkt uns seine Zeit.“

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