Oberammergauer Passionsspiele: Gewaltig. Tief. Klug.

19. Mai 2010 in Deutschland


Es ist selten, dass ein Passionsspiel ein nationales Ereignis ist.


Oberammergau (kath.net/idea) Alle 10 Jahre finden in Oberammergau die Passionsspiele statt. Am 15. Mai wurde die 41. Saison eröffnet. Seit 377 Jahren wird in der oberbayerischen Gemeinde das Spiel „vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“ aufgeführt.

4.700 Besucher kamen zur Premiere, darunter der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und über 400 Journalisten. Sie erlebten sechs ergreifende Stunden Volkstheater.

Das Oberammergauer Passionstheater ist am Premierentag das kälteste Theater Deutschlands. Es regnet, der Himmel ist erst grau, dann dunkel. Die Temperaturen in dem überdachten Freilicht-Theater liegen nur knapp über dem Gefrierpunkt. Nicht wenige Premierengäste sind mit Schal und Mütze angereist, zudem haben die Veranstalter Decken ausgegeben. Dennoch bibbert und hustet sich das Publikum durch die knapp sechsstündige Aufführung.

Gezeigt werden die letzten Tage vor Jesu Kreuzigung, Tod und Auferstehung, beginnend mit Jesu Einzug in Jerusalem. Ein in jeder Hinsicht verschwenderisches Stück ist hier zu bestaunen: 48 Chorsänger singen Gott zur Ehre, unsichtbar spielen im Orchestergraben 55 Instrumentalisten. Bis zu 900 Menschen drängen sich auf der Bühne und auch Schafe, Ziegen, zwei Kamele, ein Esel und ein Pferd haben ihren Auftritt.

Nicht zuletzt hat man den Eindruck, hier werde fast das gesamte Evangelium zitiert: von Jesu Seligpreisungen, den Auseinandersetzungen mit den Pharisäern, den Verhören vor Pontius Pilatus und Herodes bis zu den letzten Worten am Kreuz.

Ein sonderbarer Jesus

Grandios sind vor allem die Massenszenen. „Hosianna“, schreit Judas, der Jesus am liebsten als König ausrufen würde. „Hosianna“, schallt es aus dem Volk, das zu Hunderten – Kinder, Frauen, Männer, Alt und Jung – auf die Bühne strömt. Wenig später wird das Volk „Kreuzigt ihn“ fordern. Der Ruf der Masse verursacht Gänsehaut.

Oder Jesu Reinigung des Tempels, in dem Händler ihre Schafe, Böcke und Tauben verkaufen. Zornig und eifernd tritt Jesus auf, stößt einen Krug um und streitet mit den Pharisäern um das Gesetz. Weitgehend wortgetreu folgt das Stück der Bibel und man hat das Gefühl, ja, so könnte das alles tatsächlich gewesen sein.

Damit klar wird, welche Botschaft Jesus vertrat, wird die biblische Chronologie durchbrochen. So hält Jesus nach seiner Ankunft in Jerusalem Auszüge aus der Bergpredigt. Er predigt von der Feindesliebe, von der Backe, die man hinhalten, der zweiten Meile, die man mitgehen soll – und wird ausgelacht.

Fremd und sonderbar wirkt Jesus hier. Ein berührender Bußprediger und zugleich unverstandener Avantgardist – ganz so, wie ihn auch die Bibel zeigt. Deutlich wird auch, wie einsam sich Jesus im Garten Gethsemane fühlte. Er betet zu Gott, doch der antwortet nicht. Also wendet sich Jesus an seine Jünger. Doch die schlafen. Also betet Jesus erneut. Wieder bleibt er ohne Antwort.

Das Stück hat die Intensität von 30 Bibelstunden – so viel Evangelium wie hier hört man in manchen (oder in vielen?) Gottesdiensten in einem ganzen Jahr nicht. Trotz der Textfülle wird man des Ganzen nicht müde: Chöre und Sprechtheater wechseln sich ab, dazu wird die Handlung von zwölf „lebendigen Bildern“ unterbrochen: Die auftretenden Personen halten still und stellen – wie eingefroren – biblische Szenen des Alten Testaments nach.

Dem Herrenmahl vor Jesu Kreuzigung wird als Bild das jüdische Pessach-Mahl vor dem Auszug aus Ägypten gegenübergestellt. Die Errichtung der ehernen Schlange durch Moses wird als Vorbild der Kreuzigung gezeigt und die Blindheit des Pontius Pilatus wird neben die Zurückweisung Moses durch den Pharao gestellt.

So entdeckt man die Verwobenheit von Altem und Neuem Testament: die Verzweiflung Kains über den Brudermord und die Verzweiflung des Judas über seinen Verrat an Jesus, Hiobs Schmerz und Jesu Todeskampf. Die an Ikonenmalerei erinnernden Bilder reizen die Augen: Grell sind die verwendeten Farben, bombastisch wirken die Engel mit ihren meterlangen Flügeln und der Betrachter bleibt unentschieden, ob das nun Kitsch oder Kunst ist.

Ein ungeduldiger Judas

Eine heimliche Hauptrolle kommt der Figur des Judas zu: Er wird als ungeduldiger politischer Aktivist dargestellt, der den Umsturz der herrschenden Verhältnisse anstrebt. Er ist es müde, immer nur zu glauben und zu hoffen. Also treibt er die Handlung voran, will Jesus durch seinen Verrat zwingen, selbst aktiv zu werden. Doch als Jesus sich kampflos abführen lässt, ist er erschüttert und verzweifelt. Da möchte man aufspringen, Judas in den Arm nehmen und ihn trösten.

Gelungen auch, wie manche Szenen miteinander verbunden wurden: Nach Judas‘ Verrat an Jesus verleugnet auch Petrus seinen Herrn. Der Unterschied wird deutlich: Petrus wird von Johannes getröstet und sagt ihm, dass Jesus ihm vergeben werde. Dagegen bleibt Judas mit seinem Versagen allein – und erhängt sich. Petrus wird zum Fels des Glaubens, Judas zum Abgrund der Verzweiflung.

Streit im Hohen Rat

Durchweg gelungen sind auch die frei erdichteten Passagen des Stücks: Glaubwürdig ist zum Beispiel die Diskussion im Hohen Rat darüber, ob Jesus Gott gelästert habe. Vergeblich versuchen Nikodemus und Gamaliel ihre Kollegen von Jesu Unschuld zu überzeugen. Der Hohepriester Kaiphas drängt bei Pontius Pilatus auf Jesu Verurteilung zum Tod.

Zur Last gelegt wird Jesus Beleidigung, Umgang mit Sündern und Übertretung des Sabbatgebotes. Statthalter Pilatus wiederum wird als gerissener Machtpolitiker gezeigt, der für die innerjüdischen Konflikte um Jesus nur Spott übrig hat. Nur weil er an Ruhe in der Stadt interessiert ist, stimmt er Jesu Hinrichtung zu.

Also nimmt die Kreuzigung ihren Lauf. Die Wachen bespeien und verspotten Jesus, ihre Schläge und Tritte werden jedoch nur angedeutet. Auch die Peitschenhiebe bei Jesu Geißelung gehen – anders als etwa in Mel Gibsons brutalem Kinofilm „Passion Christi“ – ins Leere. Die größte Strapaze dürfte an diesem Abend die Kälte sein, die der am Ende nur noch mit Lendenschurz bekleidete Jesus ertragen muss.

Ein gewaltiges, ein tiefes, ein kluges Stück. Nur an zwei Stellen hakt es an diesem Abend: Erst gibt es beim Aufrichten von einem der drei Kreuze Schwierigkeiten. Minutenlang versuchen die römischen Soldaten den Todesbalken zu verankern und man bangt mit ihnen, ob es ihnen gelingt. Weit ärgerlicher ist, dass ausgerechnet die Schlussszene, in der Jesu Auferstehung gefeiert wird, unglaubwürdig wirkt. Zwar brennt ein Osterfeuer auf der Bühne, das von Kerze zu Kerze weitergegeben wird und alles erleuchtet, dennoch zündet diese Szene nicht. Zu plötzlich und zu selbstverständlich kommt hier die Auferstehung daher. Die Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, die zwischen Karfreitag und Ostern liegt, ist kaum zu spüren. Deshalb werden auch die Überraschung und Freude bei der Begegnung mit dem Auferstandenen nicht wirklich deutlich. Schade – bei einem ansonsten grandiosen Passionsspiel.



Foto: (c) www.passionsspiele2010.de


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