'Auf Liebe programmiert'

26. April 2010 in Interview


Bestseller-Autorin Christa Meves über die Bedürfnisse unserer Kinder, die leisen Vorgaben Gottes und den nötigen Aufbruch zu einer christlichen Kulturrevolution


Goldach (kath.net/St. Josephsblatt)
Michael Ragg: Frau Meves, die neue deutsche Familienministerin Kristina Köhler möchte die erste Frau sein, „die Ehe, Kinder und Karriere unter einen Hut bringt, ohne dass irgendein Teil darunter leidet“. Ist das realistisch?

Christa Meves: Die Vorstellung der Vereinbarkeit von Ehe, Kindern und Karriere, ist ein vierzigjähriger Wunschtraum der Feministinnen. Aber die vielen Langzeitbemühungen sind erschreckend negativ: Ein Boom seelischer Erkrankungen schon bei Kindern im Vorschulalter und eine geminderte Leistungsfähigkeit im Schulalter sind das Resultat. Allein die enorme Zunahme des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADHS) spricht eine traurige Sprache. Der Grundsatz auch für die moderne Frau muss heißen: Alles zu seiner Zeit! Zumindest in den ersten drei Lebensjahren, während der Konstituierung des Gehirns, ist die anwesende Mutter für das Kind unentbehrlich.

Das hören viele Frauen heute nicht gern, denn freie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung gelten als höchster Wert. Warum beharren Sie auf dieser engen Bindung von Mutter und Kind in den ersten Lebensjahren?

Der Anfang unserer Entwicklung als Mensch ist eben eingebettet in Naturgesetze, deren Missachtung dazu führt, dass wir Menschen uns nicht so gut entwickeln wie wir könnten, dass wir uns im Leben schwerer tun als nötig, dass wir unser genetisches Optimum nicht erreichen.

Nach der von mir entwickelten Anthropologie gibt es vier Grundtriebe des Menschen. Diese vier Antriebe müssen im richtigen Zeitfenster durch die Umwelt richtig beantwortet werden. Der Nahrungstrieb hat sein Zeitfenster von den ersten Wochen bis zum ersten halben Jahr. Der Bindungstrieb entwickelt sich ebenfalls von der Säuglingszeit bis weit ins zweite Lebensjahr hinein. Dann kommt der Selbstbehauptungstrieb, in dem Augenblick, in dem der kleine Mensch sich auf die Beine stellt bis durch die Kleinkindjahre hindurch. Schließlich öffnet sich das Zeitfenster der Vorbereitung auf die Identifikation mit dem eigenen Ich im Alter von fünf bis sieben Jahren.

Was passiert, wenn man diese Gegebenheiten ignoriert?

In meiner psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche sah ich schon vor vierzig Jahren ein Verhängnis heraufziehen, das sich wie ein dunkler Schatten in unser Wirtschaftswunderland einschlich. Ich konnte sehen, dass die Kinder, wenn man sie in der ersten Lebenszeit nicht den Vorgaben der Schöpfungsordnung gemäß erzieht, immer gewissenloser, immer bedürftiger, immer gieriger, immer unruhiger werden müssen. Aus vielen Gesprächen mit den Müttern über die Vorgeschichte der Kinder ergab sich, dass der Ansatz von Freud richtig war, dass nämlich die meisten Lebensschwierigkeiten und seelischen Störungen des Erwachsenenzeitalters in der Kindheit entstehen und wir konnten jetzt hinzufügen: Durch den immer unnatürlicheren Umgang mit den Säuglingen und Kleinkindern.

Also: zurück zur Natur?

Die natürlichen Entwicklungsprozesse, genauer: die Schöpfungsordnung, sollten wir allerdings beachten. Ein generelles „Zurück“ empfehle ich aber keinesfalls, denn frühere Elterngenerationen waren ja auch nicht vollkommen. Sie hatten zum Teil ebenso falsche, wenn auch anders falsche Vorstellungen. Dass etwa das Kind grundsätzlich nur um sechs, um zehn, um zwei Uhr, die Brust bekommt, dass man es schreien lassen muss, damit es eine gesunde Lunge entwickelt. Das waren fehlerhafte Traditionen.

Wir müssen heute aufgrund der Praxiserfahrung und der Ergebnisse der neuen Hormonforschung hingegen neu lernen, dass „die Krone der Schöpfung“ auf gekonnte Liebe programmiert ist und die leiblichen Eltern, besonders aber die Mütter, hormonell für diese Aufgabe vorbereitet werden. Deshalb lässt sich die Mutteraufgabe an den Neugeborenen nicht ohne Not willkürlich delegieren, ohne ein großes Risiko für die seelisch ausgeglichene Entwicklung des Kindes heraufzubeschwören.

Auch die Frauen werden erkennen, dass es sich lohnt, am Anfang des Lebens ihrer Kinder Zeit und Liebe zu investieren. Sie können und sollen sich dann immer noch auch in der Arbeitswelt verwirklichen, wenn sie das möchten. Gerade hat mir eine Mutter am Telefon freudig berichtet, wie wunderbar es jetzt mit ihrem zweijährigen „nach Meves erzogenen“ Baby gehe – „easy going“, sagte sie.

Sie betonen die „Vorgaben der Schöpfungsordnung“, als gläubige Katholikin also die Vorgaben Gottes für das menschliche Leben. Wie hängen die Entchristlichung unserer Gesellschaft und die Nöte der Familien zusammen?

Viele der modernen Menschen haben unter dem Einfluss atheistischer Medien in ihrem Leben Gott als den Schöpfer aller Dinge vergessen. Da unser himmlischer Vater uns aber nach seinem Ebenbild geschaffen und deshalb mit der Möglichkeit zu Entscheidungsfreiheit und Liebesfähigkeit beschenkt hat, bedeutet das große neue Schutzlosigkeit für die Menschen der Moderne. Viel Unglück, Ehescheidung, neue Krankheiten, Untergang von Familien, sind durch hochmütige Fehlentscheidungen entstanden, ohne zu Gott hinaufzufragen. Wir müssen aus diesen negativen Erfahrungen lernen; denn Gott liebt uns ja, er will unser Glück. Aber er kann uns aus der Freiheit der Entscheidungen nicht entlassen. Doch er hatte uns mit heimlichen Vorgaben beschenkt, die es eher möglich machen, den Weg zu ihm, und das heißt zur Verwirklichung der Liebe in der Welt zu finden.

Die Voraussetzungen zu eigener Liebesfähigkeit z. B. findet der Mensch am ehesten in einer gesunden liebevollen Familie. Aber auch hier kann vieles schief gehen, wenn nicht gleich am Anfang richtige Entscheidungen der Eltern getroffen werden. Die Mutter und das Kind werden deshalb am Lebensanfang mit einem Hormon bestückt, dem Glückshormon Oxytocin, sagen die Forscher, damit die Mutter sich zunächst mit ständiger Nähe um ihr Kind kümmert; denn so entsteht im Hirn des Kindes innere Zufriedenheit und Bindungsfähigkeit. Die Leibnähe einer liebevollen, sich dem Kind hingebenden Mutter, ist das wichtigste Pfund für einen bindungsfähigen und liebevollen Charakter im Erwachsenenalter. Das macht seine seelische Gesundheit später aus, schon ganz und gar, wenn auch der Vater der Familie den Schutz und die Verantwortung für seine Familie übernommen hat. Der Mensch ist also von Kopf bis Fuß auf Liebe programmiert! Dass diese Vorgaben in menschlicher Hybris verdrängt und vermeintlicher Selbstverwirklichung geopfert haben, hat letztlich zu dem gravierenden Anstieg von Bindungsunfähigkeit, Depressionen, und ähnlichen seelischen Erkrankungen geführt, die wir heute beklagen.

Deshalb auch bleibt die Heilige Familie ein unsterbliches Vorbild, mit dieser Mutter, die - von Gott durch eine Schwangerschaft gesegnet - antwortet: „Ja, Herr, mir geschehe, wie Du es willst.“ Mit einem Vater, dem Heiligen Josef, der – nachdem er etwas mühsam gelernt hat, dass er in die Verantwortung gerufen ist, - den Schutz, die Sorge für die Unterkunft sowie die Führung durch die Nacht und nicht zuletzt die Anleitung zu gutem Lernen und Arbeiten in dieser Welt selbstlos und aufopferungsvoll übernimmt, mit einem Elternpaar also, das sich in all seinen Entscheidungen nach den Weisungen Gottes richtet.

Der Gerhard-Hess-Verlag ein Buch von Ihnen angekündigt mit dem Titel: „Es ist noch nicht zu spät! Neue Wege in eine lebenswerte Welt.“ Trotz des von Ihnen diagnostizierten gesellschaftlichen Niedergangs klingt das sehr zuversichtlich. Worauf gründet ihre Hoffnung?

Tatsächlich überwiegt bei mir insgesamt die Hoffnung, weil ich die Erneuerung unserer Gesellschaft nicht von der Regierung und nicht von den Bischöfen erwarte. Sie muss aus der Bevölkerung kommen. Deshalb heißt eines meiner Bücher: „Aufbruch zu einer christlichen Kulturrevolution“. Jetzt ist die Zeit so weit gereift, dass wir wieder auf offene Ohren treffen, wenn wir darauf hinweisen, dass christliches Denken und Tun den als richtig erkannten Entfaltungsbedingungen des Menschen entsprechen.

Immer mehr Menschen erkennen, dass sich für das „christliche Abendland“ die Existenzfrage stellt. Das sind Menschen, die begriffen haben, dass eine lebenswerte Zukunft für Kinder und Enkel neu erkämpft sein will. Diese Menschen, für die es so etwas wie überpersönliche Mitverantwortung gibt, sie müssen jetzt Netze einer neuen Kultur bilden. Wenn sie klar, einig und entschlossen genug sind, müssen sie nicht in der Mehrheit sein, um in der Gesellschaft neuen Mut zu wecken.

Hier setze ich vor allem auf junge Familien: Wir müssen unsere Kinder so ins Leben geleiten, dass sie lebendig und leistungsfähig, frei und gewissenhaft, fröhlich und mit gläubiger Hoffnung durchs Leben gehen können, damit sie überhaupt Menschen werden, wie Gott sie gemeint hat. Dass das durch so viele ideologische Fehlvorstellungen über die Lebensnotwendigkeiten von Kindern verhindert wird, das nimmt mich so mit, dass ich darüber sicher bis zum letzten Atemzug aufklären und dagegen anlieben muss.

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Das «St. Josephsblatt» ist eine Monatszeitschrift für Glaube und Familie. Eine Probenummer können Sie unter Verlag St. Josephsblatt bestellen: Postfach 225, 9403 Goldach, Schweiz, E-Mail: [email protected]; Tel.: +41 71 844 03 33

Buchtipp:

Christa Meves
"Es ist noch nicht zu spät!
Neue Wege in eine lebenswerte Welt"
151 Seiten, Gerhard-Hess-Verlag

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