'Über den Zeitgeist reden und ihm widersprechen'

14. Jänner 2010 in Interview


Wie die Kirche heute ihre Botschaft in die Welt tragen kann - Interview mit Giuseppe Gracia PR-Berater und Kommunikationsbeauftragter des Bistums Basels - Von Ann-Katrin Gässlein / forumKirche


Basel (kath.net/forumkirche)
Giuseppe Gracia ist Public Relations Berater und Kommunikationsbeauftragter des Bistums Basel. An ihn gerät, wer eine Auskunft oder eine Stellungnahme von Seiten der Kirche möchte. Er begleitet und berät auch Vertreter der Kirche, die sich der Öffentlichkeit und den Medien stellen. Ein Gespräch über Fragen und Rückfragen, Wahrheit und Lügen und das moderne Menschenbild.

Ann-Katrin Gässlein: Sie haben gesagt, die Kirche wird bei den üblichen Skandalthemen im Grunde gefragt: Führt der Zölibat nicht zu unterdrückter Sexualität? Wie könnt ihr Frauen und Gleichberechtigung so ignorieren? Wann kommt die demokratische Mitbestimmung?

Giuseppe Gracia: Sicher. Obwohl es vermutlich nicht diese Fragen sind, die den heutigen, oft kirchenfernen Menschen im Inneren umtreiben. Da geht’s eher darum, dass wir eine aufs Machbare fixierte Gesellschaft haben und man sich am Ende fragt: ist das alles? Gibt es nicht einen höheren Sinn? In den Medien zählt nur das Hier und Jetzt. Steigerung, Optimierung des Lebens. Ein handelnder Gott hat da wenig Platz. Alles ist Menschenwerk, daher will man auch überall mit bestimmen. Nicht nur in der Kirche.

Zum Beispiel?

Giuseppe Gracia: Nehmen wir die Frage der Scheidung. Ehe wird heute nicht mehr als Band zwischen den Ehepartnern und Gott verstanden, sondern als Vertrag zwischen zwei Menschen. Die Hochzeit ist dann eine Feier, die von der Kirche rituell oder spirituell aufgemotzt werden soll. So wird es tatsächlich unverständlich, warum man diesen Vertrag nicht auch wieder auflösen kann.

Dann wirkt die Position der Kirche unverständlich und hart…

Giuseppe Gracia: Ja, aber ich sage das ohne Kritik. Denn ohne Bezug auf Gott halte ich es auch nicht für möglich, dass Liebe ein Leben lang hält oder der Zölibat ein starkes Zeichen sein kann. Ohne Gottes Hilfe - keine Chance. Vieles, was die Kirche verlangt, wird ohne Gott utopisch. Deshalb versteht uns auch die Welt nicht, sobald Gott keine zentrale Rolle mehr spielt.

Dann frage ich weiter: warum braucht es überhaupt die Institutionen, wenn es eigentlich um Gott geht?

Giuseppe Gracia: Ich hatte ein langes Gespräch mit einem reformierten Freund, der mir sagte: „Ich brauche keinen Priester oder Papst, der sich zwischen mich, die Bibel und Gott schiebt. Da seid ihr Katholiken so unselbständig.“ Meine Antwort: „Dein Konzept ist für Menschen sinnvoll, die ein fertiges, reifes Gewissen haben. Ich vertraue mir weniger. Ich kann mich gut selbst betrügen und schnell mal entscheiden, was Gott so von mir will. Da brauche ich erfahrene Glaubenslehrer, die mir helfen, auch mit der Bibel“.

Und diese Aufgabe sollen Lehramt und Tradition übernehmen?

Giuseppe Gracia: Der springende Punkt ist unser Selbstbild: Kann der Mensch selbst herausfinden, was Gott von ihm will? Das bezweifle ich. Es braucht religiöse Erziehung und Führung.

Sie zitieren gerne Romano Guardini, der in den 60er Jahren den modernen Menschen als „Mischung von Halbgott und Ameise“ bezeichnete. Was verstehen Sie darunter?

Giuseppe Gracia: Nach dem Zeitgeist will der Mensch Schaffer aller Möglichkeiten sein. Über Therapie, Fitness und diverse Kulturtechniken will er sich oder die Natur ändern. Der Mensch als totaler Selbstentwurf. Auf der anderen Seite wird er als Produkt der Evolution verstanden, über Gene und Erziehung weitgehend vorbestimmt, geprägt und unfrei. Das ist die Schizophrenie der Moderne. Und diese scheint in den Medien, in Filmen oder Bestsellern durch.

Und was ist der Mensch nach der Botschaft des Evangeliums?

Giuseppe Gracia: Ich würde mit Thomas von Aquin sagen: In uns wohnt die Lust der Tiere, in uns wohnt die Lust der Engel, beides zugleich. Doch viele sehen nur die Biologie und reduzieren uns aufs Tierische. Andere sehen nur den Geist und wollen sich über den Körper, über die konkrete Welt erheben. In beiden Fällen ist der Gottesbezug gleichgültig. Aber dort, wo Gott gleichgültig wird, betet der Mensch seine eigenen Ideen an.

Kann sich die Kirche mit populären Themen öffentlich Gehör verschaffen?

Giuseppe Gracia: Leider verspielt sie ihre Chancen. Zum Beispiel bei Verhütungsmitteln. Wir werden oft zur Sexualethik gefragt, weil man hier Skandale erwartet, à la „Papst und Kondome“. Aber Pille, Kondom, Viagra usw., das wären Chancen, um über den Zeitgeist zu reden und ihm zu widersprechen. Der Zeitgeist sagt etwa: Sex ist primär eine Lustquelle. So erscheint die Pille legitim für den freien Konsum dieser Lust, ohne zu ernste Folgen. Dabei suchen die meisten Menschen im Herzen gar keine unernsten Beziehungen, sondern Treue, eine Liebe fürs Leben.

Wenn man den Umfragen bei Jugendlichen glaubt, heute mehr denn je.

Giuseppe Gracia: Ich lese immer den Sexualratgeber in den 20 Minuten, da sehe ich den Zeitgeist, der das komplett ignoriert. Kein Wort von Treue oder Lebensliebe. Wenn die Prämisse schon lautet: Wir wollen uns gegenseitig frei geniessen – dann wird man sich aber auch neu orientieren, sobald Probleme auftauchen. Denn was, wenn mir ein Unfall passiert, der Sex unmöglich macht? Was, wenn ich impotent werde? Wenn meine Frau ein Kind bekommt und keine Lust mehr hat? Der Zeitgeist sagt: Nur kein schlechtes Gewissen, bleib weiterhin frei und wechsle den Partner. Unter dem Strich geht ja die Lustrechnung nicht mehr auf. Da muss man fragen: Macht das den Menschen wirklich glücklich? Wird das am Ende nicht eine Quelle des Leids?

Was wäre eine andere Rückfrage?

Giuseppe Gracia: Was wünscht ihr für eure Kinder? Also ich wünsche meiner Tochter nicht möglichst viele Partner mit Hochs und Tiefs und Trennungen, möglichst viel Sex mit verschiedensten Leuten. Ich wünsche ihr einen Menschen, der sie wirklich liebt, eine tragende Beziehung, die ihr innere und äussere Heimat spendet.

Es geht also darum, die Widersprüche aufzuzeigen und sie zu benennen.

Giuseppe Gracia: Kaum ein Ratgeber orientiert sich an der eigentlichen Sehnsucht der Menschen. Die haben das Motto „Selbstverwirklichung und Selbstkonsum“. Es ist politisch unkorrekt zu sagen, dass eine so gelebte Autonomie in die Illusion führt, und nicht auf den Weg zum Glück, oder auch nur zu einer erträglichen Gesellschaft.

Wie kann das konkret in der Medienarbeit geschehen? Müssen unsere Kirchenvertreter nicht einiges neu lernen?

Giuseppe Gracia: Die wichtigste Kompetenz, die es heute braucht, ist die Reaktionskompetenz. Das brauchen alle mit Führungsaufgaben, nicht nur die Bischöfe. Sie müssen auf hohem Niveau reagieren können, wenn es um neue Debatten geht, bei Kirchenpolitik sowieso, aber auch bei Sterbehilfe, Gerechtigkeitsfragen, Familienpolitik etc.

Und sich nicht hinter kirchlicher Sprache und Begriffen verstecken?

Giuseppe Gracia: Noch schlimmer wäre, alles verärgert abzuwehren oder sich über oberflächliche Medien aufzuregen. Es gibt keine dummen Fragen! Nur gute Gelegenheiten, um zu erklären, was die Botschaft der Kirche ist.

Da bin ich aber nicht sicher. Manche Fragen kommen mir selbst absurd vor.

Giuseppe Gracia: Einmal hatte ich eine Anfrage vom „Blick“: Ob die Sünden, die die katholische Kirche definiert, eigentlich nur für Katholiken gelten. Ausgezeichnete Gelegenheit, um zu erklären, was Sünde meint: Dass sich der Mensch von Gott entfernt. Sünde ist nicht nur eine moralische Kategorie, sondern in den Möglichkeiten unserer Existenz angelegt.

Wo liegt der Unterschied?

Giuseppe Gracia: Wenn ich lüge und mich in die eigenen Lügen verstricke, macht mich das nicht einfach unmoralisch, sondern auch unfrei. Ich muss immer Angst haben: Wer weiss die Wahrheit? Wer findet sie heraus? Das ist eine tiefe Erfahrung über das Moralische hinaus. Mein Sohn hat schon ein paar Mal gelogen. Er merkte irgendwann, dass ich es merkte, und das machte ihn noch unfreier. Bis er irgendwann damit herausrückte. Ich fragte ihn, wie es ihm in der Zeit ergangen ist: „Furchtbar!“

Und das gilt für alle Menschen?

Giuseppe Gracia: Ich glaube das. Und die Kirche erfindet natürlich keine Sünden. Sie macht Gefahrenpotentiale in unserer Welt ausfindig, wie eine gute Ärztin. Zum Beispiel die Pränataldiagnostik, mit der wir sehen, ob ein Embryo Schäden hat. Als meine Frau schwanger wurde, informierte unsere Ärztin darüber und fragte: Wollen Sie das? Denn später müssen Sie eine schwere Entscheidung treffen. Solche Hinweise muss auch die Kirche geben. Sie soll orientieren: „Pass auf, Mensch! Es gibt Dinge, die hast du nicht zu entscheiden!“

Dass die Menschen so etwas nicht gerne hören, liegt auf der Hand…

Giuseppe Gracia: Jesus sagt selbst: Die falschen Propheten schmeicheln den Ohren. Und das hat er nicht gemacht. Alles, was er sagte, sind anspruchsvolle Worte und oft skandalöse Predigten. Selig sind die Armen, selig die Leidenden… das ist skandalös, wenn man wirklich mal darüber nachdenkt.

Das fördert und verherrlicht Unterwerfung oder den Masochismus, könnte man vorbringen.

Giuseppe Gracia: So hat das Nietzsche gesehen. Aber Jesus sagt auch: Selig sind die Trostspendenden. Wenn ich das mit den heutigen Botschaften vergleiche: Selig sind die, sie sich verwirklichen, die wissen, was sie wollen, die das Zepter in der Hand haben. Das ist einfach nicht wahr.

Jetzt sprechen Sie die Wahrheitsfrage an. Ist das nicht heikel?

Giuseppe Gracia: Die Kirche wird oft auf das Moralische reduziert und spricht oft auf dieser Ebene. Auch die liberale Theologie hat noch nicht begriffen, wie wichtig die Wahrheitsfrage ist. Die muss man vermehrt stellen, auch in der Boulevardpresse. Meine Rückfrage an die modernen Selbstverwirklichungsideologien ist also nicht: Wohin führt das Ganze moralisch? Sondern: Ist es wahr, dass uns das glücklich macht, unserem Wesen entspricht? Ich denke nicht.

Besten Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Ann-Katrin Gässlein, forumKirche”. Mit freundlicher Genehmigung von Giuseppe Gracia


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