'Die Kirche darf sich nicht auf eine Sozialagentur reduzieren lassen'

4. Jänner 2010 in Österreich


Grazer Bischof Egon Kapellari spricht von "einem krassen Mangel an Glaubenswissen" und einer "verbreiteten religiösen Gleichgültigkeit" bei vielen Getauften - Fixierung auf "Heiße Eisen"-Themen bringt uns nicht weiter


Graz (kath.net)
Kath.net dokumentiert die Predigt des Grazer Bischofs Egon Kapellari bei der Jahresschlussandacht am 31.12.2009 im Grazer Dom:

Unser Lebensweg führt immer wieder über Schwellen. Es sind Zeit- und Raumschwellen. Sie laden ein oder zwingen sogar zum Nachdenken über unser Woher und Wohin, über den Weg und die Wegzehrung. Eine solche Schwelle ist auch der Übergang in das zehnte Jahr des dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung. Es ist kein symbolisch hoch befrachtetes Jahr wie die von uns erlebten Jahre 2000 oder 1989, aber jedenfalls eine Zeit, die uns trotz auferlegter Grenzen zur Gestaltung und Verantwortung eingeräumt sein wird.

Zeit kann sehr unterschiedlich erlebt werden und wird auch heute von verschiedenen Menschen als sehr unterschiedlich erlebt und oft auch erlitten. Man hat sie, je nachdem, als reißende, als bleierne, als dürftige oder auch als hochwillkommene Zeit qualifiziert und auch das Jahr 2010 wird all das sein: zugleich oder nacheinander für unterschiedliche Menschen und menschliche Gemeinschaften.

Wo stehen wir zumal als Österreicher und Europäer am Beginn des Jahres 2010 inmitten eines Weltpanoramas, das uns zumal durch die Medien in der von ihnen verfügten Auswahl präsentiert wird? Als generaldiagnostisches Wort drängt sich in hoher Frequenz das Vokabel Krise auf. Wir sollten ihm nicht ausweichen, uns aber als Bürger der Zivilgesellschaft wie als Christen von ihm auch nicht lähmen lassen. Die angezeigte Krise hat eine wirtschaftliche Dimension, dann aber als angesagter Klimawandel auch eine ökologische und schließlich angesichts drohender Kulturbrüche zumal wegen der Überalterung der angestammten Bevölkerung und wegen Veränderungen der Gestalt und Bedeutung von Religion auch eine tief greifende gesamtkulturelle Dimension. Als Christen und als Gemeinschaft der Kirche sind wir dadurch besonders zur Solidarität herausgefordert, denn wie das II. Vatikanische Konzil in seinem Dokument über Kirche und Gesellschaft in geradezu klassischer Prägnanz gesagt hat, sind „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“.

Die Christenheit steht heute einerseits der europäischen Gesellschaft und deren Chancen und Krisen gegenüber. Andererseits ist diese Christenheit selbst ein großer Teil der Zivilgesellschaft. Es ist eine Christenheit, die auch ihre spezifisch eigenen Wunden hat und besonders herausgefordert ist durch die Spannung zwischen kirchlicher Breite und Tiefe, durch einen starken innerkirchlichen Pluralismus aber auch durch einen offensiven Islam und einen neuen aggressiven Atheismus. Einem krassen Mangel an Glaubenswissen und einer verbreiteten religiösen Gleichgültigkeit bei vielen Getauften steht aber – oft freilich erst für einen zweiten und tieferen Blick erkennbar – eine große Tragkraft und Bindekraft der Kirche, zumal in deren älterer Generation gegenüber. Es ist keine Übertreibung, wenn man von der katholischen Kirche als von einer weltweit wirksamen Großmacht der Barmherzigkeit spricht wegen ihres Einsatzes gegen Hunger und gegen Seuchen, gegen soziales Unrecht vieler Art, gegen Bildungsnotstände und gegen die Gefährdung der Umwelt, die doch unsere Mitwelt ist.

Die Kirche darf sich nicht auf eine Sozialagentur reduzieren lassen oder selbst reduzieren. Aber auch im sozial-karitativen und im Bildungsbereich erbringt die katholische Kirche in unserem Land einen Einsatz, der ohne Selbstüberschätzung als gesamtgesellschaftlich überdurchschnittlich bezeichnet werden kann. All das wird getragen und genährt durch das Gebet und das Glaubenszeugnis unzähliger Männer und Frauen und besonders auch durch den treuen Dienst so vieler Priester und Ordensleute. Spezifische Probleme und Spannungen in der Kirche in Ländern wie Österreich, die sich durch den Priestermangel und die sogenannten „Heiße Eisen“-Themen ergeben, sollen nicht klein geredet werden. Eine Fixierung auf sie bringt uns aber nicht weiter. Vielmehr sollten wir stärker auf das schauen, was uns an Gutem im Verbund mit der Weltkirche gerade auch hier und heute gelingt und das ist viel.

An der Schwelle zu einem neuen Kalenderjahr ist vielen noch ein Wort des Weihnachtsengels an die Hirten von Bethlehem in Erinnerung. Es lautet „Fürchtet Euch nicht!“ und sollte auch den Weg in das neue Jahr begleiten. Dieses Wort ist kein Opium zu falscher Beruhigung. Es erspart nicht die Begegnung mit Krisen, sondern fordert dazu auf, dass wir Verantwortung übernehmen für uns selbst, für andere Menschen, für die Kirche und für die ganze Gesellschaft.

Hier geht es um das „Prinzip Verantwortung“, von dem der verstorbene jüdische Philosoph Hans Jonas in anderem Zusammenhang gesprochen hat. Diese Verantwortung wurde beispielsweise von Strategen der Finanzwelt auf kurzsichtige oder auch auf frivole Weise außer Acht gelassen mit verheerenden Folgen für unzählige Menschen. Die Überwindung dieser und anderer Krisen setzt voraus, dass das „Prinzip Verantwortung“ national und international wieder gestärkt wird. Dazu kann und sollte jeder und jede in Gesellschaft und Staat etwas beitragen, statt das Rettende nur von Regierungen und anderen Trägern umfassender politischer, sozialer und kultureller Verantwortung zu erwarten und einzufordern. Freilich sind die Mächtigen dadurch nicht ihrer eigenen schwerwiegenden Verantwortung enthoben.

Eine Nagelprobe für globale Verantwortung ergibt sich heute auch durch die offenbar unübersehbare Veränderung des Klimas. Es ist strittig, wie viel der Mensch, die Menschheit tun können, um die Erderwärmung zu beschränken. Nüchterne Beobachter, auch Wissenschaftler, sprechen bereits von einer Überschätzung der diesbezüglichen Möglichkeiten. Man soll, ja man muss aber in dieser nicht eindeutigen Situation den sichereren Weg gehen, um Schaden zu verhindern oder zu mindern. Dies entspricht auch einem bewährten Prinzip katholischer Moraltheologie, dem sogenannten Tutiorismus, der sagt, man solle, ja müsse bei lebenswichtigen Entscheidungen den sichereren Weg wählen. Daher haben auch der Papst und viele Bischöfe im Zusammenhang mit der Klimakonferenz in Kopenhagen diesen Weg nachdrücklich unterstützt und werden weiterhin dazu mahnen.

Nach Meinung vieler Diagnostiker zeigt die europäische Kultur starke Symptome einer Spätzeit, ausgewiesen unter anderem durch den großen Mangel an Kindern bei der angestammten Bevölkerung und durch übersteigerte materielle Bedürfnisse auf Kosten der Solidarität mit den Nachgeborenen in Europa und mit notleidenden Menschen und Völkern weltweit. „Wir brauchen alles für uns selber, und wir trauen wohl der Zukunft nicht recht. Aber zukunftslos wird die Erde erst sein, wenn die Kräfte des menschlichen Herzens und der vom Herzen erleuchteten Vernunft erlöschen – wenn das Antlitz Gottes nicht mehr über der Erde leuchtet. Wo Gott ist, da ist Zukunft“, hat der Papst am 8. September 2007 in Mariazell gesagt.

Verantwortungsbewusste Europäer setzen sich dafür ein, dass Europa, auch wenn es in mancher Hinsicht müde geworden ist, sich im Welthorizont kulturell und politisch nicht aufgibt. Und die Kirche darf im Blick auf Christus Europa nicht aufgeben: diesen Kontinent, der im Lauf der bisherigen Kirchengeschichte am längsten und fundamentalsten vom Christentum geprägt worden ist und dessen christliche Wurzeln auch heute trotz aller Säkularisierung millionenfach tragen und nähren. Die Europäische Union erweist sich trotz viel Kritikwürdigem als sehr wichtiges Instrument für die Stabilität Europas inmitten globaler Veränderungen. Deshalb haben der Papst und die Bischofskonferenzen das Projekt der Europäischen Integration mit – wenngleich kritischer – Solidarität begleitet und werden es auch in Zukunft tun, auch wenn ein aggressiver Laizismus da und dort versucht, Religion und zumal Kirche ins Private zu verdrängen.

„Fürchtet Euch nicht!“, sagt der Weihnachtsengel auch an der Schwelle zum neuen Jahr 2010 zu allen Menschen, die guten Willens sind und die Gott Raum geben in ihrem Leben. Er sagt es zu jedem von uns. Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet nicht euer Herz gegen diese gute Botschaft. Amen.


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