Als historische Aussage ernst nehmen'

22. Dezember 2009 in Interview


Interview mit Ansgar Wucherpfennig, Professor für Neues Testament an der Jesuitenhochschule St. Georgen, über Weihnachten, Jungfrauengeburt und was die Exegese damit anfängt – Von Oliver Maksan / Die Tagespost


Würzburg (kath.net/DieTagespost)
DT: An Weihnachten wird in den Messen die Kindheitsgeschichte Jesu verlesen. Hören wir da nun Legende oder Wahrheit?

Wucherpfennig: Im Großen und Ganzen tendiert die Exegese wieder dazu, historische Wahrheit als Hintergrund der Weihnachtsevangelien anzunehmen. Ich gehe zum Beispiel fest davon aus, dass Josef ein so barmherziger Mann war, wie ihn Matthäus schildert. Nun ist eine Legende ja auch keine Lügengeschichte. Sie drückt auf ihre Weise auch Wahrheit aus. Zunächst mal heißt Legende übersetzt einfach „Zu Lesendes“, und das gilt für die biblischen Weihnachtserzählungen sicher: Sie sollen gelesen werden, um uns zum Glauben zu bewegen.

DT: Gut. Aber die Leute fragen ja, ist es so gewesen? Schwebte der Engel über der Krippe und verkündete den Hirten? Wurde Jesus von einer Jungfrau geboren?

Wucherpfennig: Hier müssen wir einen Weg zwischen Fundamentalismus und Rationalismus finden. Der Fundamentalismus sieht jedes einzelne Detail der Kindheitserzählungen als exakt so geschehen und liest sie dann wie ein Versuchsprotokoll. Der Rationalismus hingegen würde alles wegrationalisieren: Die Kindheitsgeschichten seien in irgendwelchen griechischen Zirkeln entstanden, um Jesu Gottessohnschaft für griechische Zuhörer durch seine Geburt aus einer Jungfrau zu rechtfertigen. Dabei gibt es in der gesamten Antike keine wirkliche Parallele zur Jungfrauengeburt. Es gibt Götter, die mit Menschentöchtern zeugen; Wunderknaben zeichnen sich schon durch geheimnisvolle Umstände ihrer Zeugung aus.

Aber es gibt in der Antike keine Jungfrau, die ihr Kind vom Heiligen Geist empfängt, und seine menschliche Mutter wird wie Maria. Eine sinnvolle Exegese würde hier zeigen, dass in den Weihnachtserzählungen Wahrheit auf symbolische Weise erzählt wird.

Das nimmt ernst, dass sie Ausdruck einer Wahrheit sind, die sich nicht in einem bloßen Faktenbericht darstellen lässt.

DT: Aber wie unterscheiden Sie symbolische Form und historischen Inhalt denn im Einzelnen?

Wucherpfennig: Beide Geburtserzählungen im Neuen Testament setzen sie voraus, und mit Einschränkungen auch schon Paulus. Dass Jesus von der Jungfrau Maria geboren wurde, ist also eine historische Aussage und als solche ernst zu nehmen. Auf der anderen Seite geht es darum, dabei die theologische Wahrheit dieser Aussage zu erfassen: Nur von unserem endlichen, vergänglichen Fleisch konnte die Erlösung nicht kommen.

Sondern es braucht den Heiligen Geist, der mit seinem ewigen Leben, seiner ewigen Wirklichkeit eintritt in unser Sein. Der Heilige Geist muss mit unserem vergänglichen Fleisch eine wirksame Verbindung eingehen. Erst dann ist tatsächlich die Möglichkeit zur Erlösung eröffnet. Matthäus und Lukas drücken diese Wahrheit als biographische Erzählung Jesu aus: Bei Matthäus steht sein barmherziger Pflegevater Josef im Mittelpunkt, bei Lukas die anmutige Mutter Maria. Wenn Sie das nun mit der Vision der Sonnenfrau in der Johannesoffenbarung vergleichen: die Frau, die mit der Sonne gekleidet ist, auf dem Mond steht und im Angesicht des Drachen gebärt. Da haben Sie auch eine Erzählung von einer Geburt, aber sie beginnt schon ganz anders: „Dann sah ich ein großes Zeichen am Himmel.“ So beginnt keine biographische Erzählung, die Evangelien beginnen aber schon so: Matthäus mit einem langen Stammbaum, und Lukas nennt sogar Namen, die die historische Glaubwürdigkeit seiner Darstellung belegen sollen: Elisabeth, Zacharias, Maria, Joseph, Simon und Hannah?

DT: Was sind aus Ihrer Sicht die Kriterien der Exegese, um festzustellen, dass es sich um eine historische Wahrheit handelt?

Wucherpfennig: Eine entscheidende Frage ist die nach der Form. Das haben wir gerade gesehen. Eine andere ist: Haben wir Alternativüberlieferungen? Haben wir aber nicht. Wir haben zwei Erzählungen im Neuen Testament, die sich zwar leicht unterscheiden, aber in wesentlichen Zügen nicht widersprechen. Und wir haben keine andere Quelle über die Kindheit Jesu, die auch nur annähernd so alt ist wie die beiden Evangelien im Neuen Testament.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Die Hirten spielen eine große Rolle. Was an ihnen ist historisch, was symbolisch?

Wucherpfennig: Von den Hirten erzählt Lukas. Sie gehören zum Idyllischen seiner Weihnachtserzählung. Deshalb stehen sie auch an jeder Krippe. Den ersten Christen ist diese Idyllik vertraut gewesen. Der römische Dichter Vergil hat von den Schäferträumen griechischer Hirten gedichtet. Jeder Jude wusste, dass auch König David einmal ein rothaariger Hirtenjunge in Bethlehem war. Und selbstverständlich kannte man auch das Bild des guten Hirten für den König. Der schöne Psalm 23 spricht von Gott als König.

Aber ist das nur ein konstruierter Topos oder gab es diese Hirten? Ihre historische Existenz muss ja den Assoziationen, die sich zur Davidfigur nahe legen, nicht widersprechen.

Wucherpfennig: Ein literarischer Topos schließt tatsächlich eine vertrauenswürdige Nachricht nicht aus. Lukas hat hier wie ein Redakteur gearbeitet. Er hat aus verschiedenen Nachrichten, die er hatte, ausgewählt und ihnen in seiner Erzählung Gestalt gegeben. Er schreibt sein Evangelium von dem Davidsohn Jesus, dem der Thron des Höchsten gegeben wird. Zu seinen Nachrichten gehörte auch, dass Jesus bei seiner Geburt von Hirten gefunden wurde. Das konnte sich Lukas natürlich nicht entgehen lassen. Die Hirten Bethlehems, aus denen König David stammte, sind nach ihm nun sogar die ersten, denen die Engel die Geburt Jesu verkünden. Lukas hat also sicherlich ausgewählt und seine Erzählung gestaltet. Ich kann mir vorstellen, dass es unter den ersten Christen noch wesentlich mehr an Überlieferungen über die Geburt Jesu gab. Die apokryphen Kindheitserzählungen geben Zeugnis davon. Sie sind alle viel legendarischer als unsere beiden Evangelien, Matthäus und Lukas. Schon Lukas musste also aus seinen Nachrichten auswählen, und er hat sehr klug ausgewählt.

DT: Woher wissen wir eigentlich, was in Bethlehem geschah? Von Maria? Von Josef? Nur so kommen wir doch bis an die Krippe.

Wucherpfennig: Von Maria. Dafür spricht einiges. Lukas sagt über sie, dass sie all das in ihrem Herzen bewahrte. Das scheint mir ein Hinweis auf ihre Zeugenschaft zu sein; das wird auch mittlerweile häufiger so gelesen. Mir scheint, dass auch die Erzählung von Josef bei Matthäus auf Wissen aus der Familie Jesu zurückgeht. Wir kommen also schon an Quellen und Personen heran, die Zeugen waren. Eine erste Zeugin dürfte auch die Prophetin Hannah gewesen sein. Lukas sagt sehr genau, wer sie ist und wie alt sie war: ihr Vater war Penuel, sie stammte aus dem Stamm Ascher, 84 Jahre lang war sie Witwe und lebte im Tempel. Jetzt sieht sie nun endlich Jesus, den erwarteten Retter. Sehr wahrscheinlich hat man sich in Jerusalem noch von Hannah erzählt, nachdem sie gestorben war. Aber hier sind wir auch im Bereich von Hypothesen. Da muss sich die Auslegung der Schrift den Standards stellen, die in der historischen Forschung üblich sind.

DT: Es macht also keinen Unterschied, ob Sie die Ilias untersuchen oder ein Evangelium des Neuen Testaments.

Wucherpfennig: Doch, die Heilige Schrift ist für einen katholischen Exegeten Wort Gottes. Für die Exegese gilt daher das Motto unserer Hochschule: pietati et scientiae, „der Frömmigkeit und der Wissenschaft“ ist sie verpflichtet. Wir lesen die Heilige Schrift zunächst mit pietas, mit Frömmigkeit, aber wir lesen sie eben auch mit scientia, mit einer zuverlässigen wissenschaftlichen Methode. Ohne pietas kann ich als Theologe die Schrift nicht lesen. Ich suche darin immer auch die Bedeutung, mit der Gott heute ins Herz der Menschen sprechen möchte.

DT: Aber steht Ihnen dieses gläubige Vorverständnis nicht im Weg? Wie können Sie mit nicht-glaubenden Kollegen diskutieren?

Wucherpfennig: Das geht schon. Ich kann mich ja auf ein wissenschaftliches Geschäft einlassen. Da bekomme ich zunächst mal tatsächlich Ergebnisse nüchterner historischer, literatur- und religionsgeschichtlicher Forschung. Allerdings bin ich natürlich damit noch längst nicht bei dem Reichtum an Bedeutung, die die biblischen Erzählungen erschließen. Ich bin noch nicht dabei, dass ich Maria tatsächlich als die Gottesmutter verehre, und als Mutter aller Glaubenden, wenn sie in Gottes Verheißung einwilligt: „Ich bin Deine Magd. Wie Du sagst, soll mir geschehen.“ Aber ich kann die Schrift durchaus historisch-kritisch lesen und komme dabei auf Ergebnisse, die ich diskutieren kann. Mit diesen Ergebnissen kann ich auch mit nichtchristlichen Kollegen ins Gespräch kommen. Es setzt natürlich ein gewisses Anfangsinteresse voraus.

DT: Das heißt der nicht-glaubende Exeget steht, käme er zu dem Ergebnis, die Evangelisten wollten historische Tatsachen überliefern, anders als bei der Ilias vor der Alternative: Entweder der Verfasser lügt, oder es ist doch wahr ...

Wucherpfennig: Stimmt, das scheint mir gut beobachtet. Denn Wahrheit ist für die Evangelien eine geschichtliche Person: Jesus Christus. Und einer Person muss ich antworten. Ich kann ihr ausweichen, aber ich kann mich ihr gegenüber nicht so neutral verhalten, wie gegenüber einem mythischen Geschichtsbericht aus der Urgeschichte Griechenlands oder des Vorderen Orients. Im Eindruck der Person Jesu aber haben die Evangelisten geschrieben, sogar gedichtet, beispielsweise das Magnificat und das Benedictus. Jetzt kann ich natürlich wie ein Archäologe an diese Dichtungen herangehen und fragen: Hat Maria jede einzelne Zeile des Magnificat wirklich gesungen? Damit hätte ich aber die eigentliche Wahrheit dieser Dichtung verfehlt. Exegese hingegen sucht, darin ein wahres Bild der Person Marias zu sehen, die Gott besingt, weil er auf ihre Niedrigkeit schaut.

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