‚Gott lässt niemanden los’

10. April 2009 in Deutschland


Predigt zum Karfreitag im Hohen Dom zu Köln von Erzbischof Joachim Kardinal Meisner.


Köln (www.kath.net/pek)
Liebe Schwestern, liebe Brüder!
„Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Joh 3,16), ist das Bekenntnis der Kirche unter dem Kreuz am Karfreitag. Gott ist so sehr Liebe, dass er bis auf den Grund menschlichen Elends, das heisst bis in den Tod, eintritt, um hier seine Liebe gleichsam explodieren zu lassen. Dieses Hinabsteigen Jesu in die völlige Einsamkeit des Todes ist der tiefste Kern seiner Passion. Sie ist nicht Schmerz, sondern die vollständige Verlassenheit, in die kein Wort der Liebe mehr dringt. Auch hier, im Allerletzten, drängt Jesus – fast platzend vor Liebe – die Nähe Gottes zum Äußersten.

Wo uns keine Stimme mehr erreichen kann, nämlich im Tod, da ist er gegenwärtig. Das ist der Karfreitag! „Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung“ (Joh 13,1), bis zum Tod. Das Kreuz Christi, seine Liebe mit Fleisch und Blut, bis zur Vollendung ist die Wirklichkeit, die wir Erlösung nennen. Jesus Christus ist mit seiner Hingabe an den Vater und an uns kein Ersatz für uns, sondern trägt das menschliche Sein, unsere Schuld und unsere Sehnsucht wirklich in sich. Er verkörpert uns wirklich. Er nimmt uns in sich auf. In der Gemeinschaft mit Christus, die im Glauben und in den Sakramenten verwirklicht wird, werden wir – trotz aller unserer Unzulänglichkeiten – lebendiges Opfer.

Im Glaubensbekenntnis beten wir: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Das ereignet sich am Karfreitag und bestimmt den folgenden Tag, den Karsamstag. Ich glaube, dass kein anderes Glaubensgeheimnis unserem Bewusstsein so fern steht wie dieses „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Weil wir uns nicht zu einer eigenen Karsamstagsfeier versammeln, soll vom Karfreitag aus ein Blick auf den Karsamstag geworfen werden.

Er ist der Tag des Todes Gottes, der Tag, der die unerhörte Erfahrung unserer Zeit ins Wort bringt und vorwegnimmt, dass Gott einfach abwesend scheint, dass das Grab ihn zudeckt, dass er nicht mehr aufwacht, dass er nicht mehr spricht, sodass man ihn nicht einmal mehr zu bestreiten braucht, sondern man kann ihn ganz einfach übergehen: „Gott ist tot, und wir haben ihn getötet“. Dieses Wort des Philosophen Friedrich Nietzsche drückt schlicht den Gehalt des Karsamstags aus, das „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“.

Zeugen einer solchen „Gott-ist-tot“-Theologie sind zum Beispiel die Emmausjünger am Ostertag. Sie reden vom Tod ihrer Hoffnung. Für sie ist so etwas wie der Tod Gottes geschehen. Die Stelle, an der Gott nun endlich gesprochen zu haben schien, ist untergegangen. Der Gesandte Gottes ist tot, und so ist völlige Leere zurückgeblieben.

Nichts antwortet mehr. Aber während sie so vom Tod ihrer Hoffnung sprechen und Gott nicht mehr zu sehen vermögen, merken sie nicht, dass eben diese Hoffnung lebendig in ihrer Mitte steht. Der Herr geht ja mit ihnen von Jerusalem nach Emmaus. So erinnert uns der wichtige Artikel im Glaubensbekenntnis: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“, dass zur christlichen Offenbarung nicht nur Gottes Reden, sondern auch Gottes Schweigen gehört. Nur wenn wir ihn als Schweigenden erfahren haben, dürfen wir hoffen, auch sein Reden zu vernehmen, das im Schweigen ergeht.

Können wir uns darüber noch wundern, dass das Leben des einzelnen Menschen immer wieder in diese Stunde des Schweigens hineingeführt wird, in den vergessenen und beiseite geschobenen Artikel: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“? Gott ist bis an diese Stelle gelangt, wo wir unsere Toten abstellen, nämlich ins Grab, sodass er im Schweigen des Grabes noch für uns erreichbar ist. Denn er ist ja in diesen letzten Abgrund menschlichen Daseins gestiegen, um den Tod auszuräumen, die Gräber leer zu machen, hinein in seine Auferstehung.

Wenn sich viele Menschen heute wieder zu der Überzeugung bekennen: „Gott ist tot, es gibt ihn gar nicht!“, dann haben sie hier am Karfreitag und Karsamstag ihr Zuhause gefunden. Der Karsamstag ist der Ehrentag der Gottlosen. Gott lässt niemanden los, auch wenn der Mensch ihn loslässt. Das zeigt der Karsamstag: Wir sind Gott losgeworden, er ist auf der Erdoberfläche nicht mehr zu finden, er ist untergegangen in das Grab. Und darum kann keiner so tief fallen, als dass er nicht noch von seiner Liebe aufgefangen würde. Weil es den Karsamstag als den Tag der Gottlosen gibt, haben wir Grund, nicht zu verzweifeln an uns selbst und an denen, die meinen, nicht mehr glauben zu können.

Am Ende seines Lebens geht Friedrich Nietzsche, der Verkünder der „Gott-ist-tot-Theologie“ in Turin in Oberitalien auf eine Pferdekutsche zu, um sein umnachtetes Haupt Hilfe suchend an den Kopf des Pferdes zu legen. Er kannte nicht mehr das Haupt voll Blut und Wunden. Darum musste der Kopf eines Pferdes herhalten.

Ich sage das nicht, um zu verletzen, aber hier wird deutlich: Nicht die Revolutionäre machen die Welt menschlich. Sie hinterlassen meistens nur Scherben und Blut. Was uns in der Welt leben lässt, ist die Güte, die Wahrhaftigkeit, die Treue und die Liebe, die Gott selbst ist und die er uns am Kreuz unübersehbar gezeigt hat. Was uns leben lässt, ist der Glaube, dass Gott so ist wie Jesus Christus. Ja, dass Jesus Gott ist, dass er, der Mann angenagelt am Kreuz, der wahre König, die wahre und letzte Macht der Welt ist. Auf diese Macht der Liebe, auf sein Kreuz zuzuleben, das ist die Botschaft des Karfreitags. Amen.

+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln

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