Als die schlimmste Christenverfolgung begann ...

13. November 2007 in Chronik


Vor Auschwitz gab es den russischen Gulag - Was mit der Oktoberrevolution begann, war die schlimmste Christenverfolgung der Kirchengeschichte – 96.000 Geistliche, Diakone und Mönche wurden erschossen - Von Helmut Matthies


Moskau (kath.net/idea)
Vor 90 Jahren wurde eine Idee Realität, die zum größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte wurde: der Kommunismus. Rund 100 Millionen Opfer forderte das, was 1917 mit der sogenannten Oktoberrevolution begann. Ohne das Geschehen vor 90 Jahren hätte es das zweite große Verbrechen im letzten Jahrhundert wohl nicht gegeben: die nationalsozialistische Diktatur mit der Ermordung von Millionen Juden und einem der brutalsten Kriege überhaupt, dem Zweiten Weltkrieg. Und trotzdem wird in den Medien merkwürdigerweise nur verhalten und in den Kirchen gegenwärtig gar nicht dieses Datums gedacht. Ein Beitrag von Helmut Matthies.

Moskau am 7. November 2007: Zum 90. Jahrestag der Revolution am 25. Oktober 1917 (nach neuem Kalender der 7. November) marschieren Tausende Kommunisten durch Moskau. Wie seit Jahren werden riesige Porträts von Marx, Lenin und Stalin hoch gehalten. In der „Prawda“ wird die Oktoberrevolution mit martialischen Worten gerühmt.

Gleichzeitig die folgende Szene: Zwölf Stunden lang verlesen in Moskau Männer und Frauen die Namen von Opfern des Terrorregimes. Sie schaffen aus Zeitgründen, „nur“ 40.000 Namen für einen Augenblick in Erinnerung zu rufen.

1917: Was wirklich geschah

Es ist fast vergessen, dass die Bolschewiki mit ihrer Revolution 1917 keine Diktatur stürzten, sondern eine zwar provisorische, aber demokratische Mehr-Parteien-Regierung, die breite Unterstützung im Volk genoss. Da die Kommunisten es nicht geschafft hätten, legal an die Regierung zu kommen, half nur die Macht der Gewehre. Fast die gesamte Bevölkerung empfand den Sturz ihres seit der bürgerlichen Revolution (mit dem Ende der Monarchie) vom Februar 1917 freiesten Systems unter allen kriegführenden Ländern als Konterrevolution. Mit dem November 1917 begann zunächst unter Lenin (1870-1924), dann unter Stalin (1879-1953) eine beispiellose Terrorherrschaft.

Der „Große Terror“

Nach der ersten großen Welle von Ermordungen vor 90 Jahren folgte zwei Jahrzehnte später – vor jetzt 70 Jahren also – eine zweite, genannt der „Große Terror“. Allein in Moskau wurden 40.000 Menschen erschossen, mindestens 700.000 weitere im Land. Manche Angehörige leben noch. Schon vor der systematischen Judenvernichtung in Deutschland ab 1942 gab es in der Sowjet¬union eine systematische Vernichtung der eigenen Bevölkerung, denn „getötet wurde nach Quoten für die einzelnen Regionen, die in Moskau festgelegt wurden“ (so die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Oktober). Und: „Im Unterschied zu anderen Terrorformen begnügte sich die stalinistische Säuberung nicht mit der Liquidierung. Das war zu wenig“ (so die Tageszeitung „Die Welt“ vom 1. November). Denn der unschuldig Verhaftete musste sogar noch um seine Verurteilung und Hinrichtung bitten. So erklärte selbst Nikolai I. Bucharin, ein Freund Lenins, der (nur weil er politisch etwas abgewichen war) angeklagt war – wie gewünscht – vor seiner Erschießung, er liebe Stalin „von ganzem Herzen“.

Über 1.000 Pfarrer getötet

Opfer des Klassenhasses waren nicht nur Adelige, Bürgerliche und Reiche, sondern vor allem auch Christen. Beispielsweise wurden an einem der KGB-Hinrichtungsplätze – in Butovo bei Moskau – mehr als 1.000 Pfarrer hingerichtet. Zahllose Kirchen wurden vernichtet. In der Sowjetunion ging ihre Zahl um 86% zurück – von 51.413 auf 7.000. Die einst blühende deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland wurde fast aller ihrer Geistlichen beraubt. 200 Pastoren brachte man um. 1937 wurde der letzte Pastor verhaftet, 1938 die letzte lutherische Kirche geschlossen. Über das Leiden der orthodoxen Kirche wurde erst 2003 eine Statistik veröffentlicht. Danach wurden 96.000 Geistliche, Diakone und Mönche erschossen.

Wer nicht sofort tot war

Was mit der Oktoberrevolution begann, war die schlimmste Christenverfolgung der Kirchengeschichte. Laut offiziellen Angaben wurden in der Sowjetunion 20 Millionen Bürger in Arbeitslagern umgebracht; weitere 15 Millionen kamen bei Verschleppungen ums Leben. Der einzige kommunistische Staatschef, der sich aus dem Ostblock lösen konnte, Jugoslawiens Präsident Tito, sagte 1962: „Bei Stalin war jedes Verbrechen möglich, denn es gibt kein einziges, das er nicht begangen hätte ... ihm wird jedenfalls ... der Ruhm zufallen, der größte Verbrecher der Geschichte zu sein.“ Während seiner Herrschaft kamen mehr als viermal so viele Sowjetbürger ums Leben (darunter auch zahllose Juden) wie durch den II. Weltkrieg, der laut Stalin sieben Millionen Menschen im Land das Leben kostete.

Noch keine Aufarbeitung

Trotz der unvorstellbaren Verbrechen gibt es auch 16 Jahre nach dem Ende des Kommunismus in Russland noch immer keine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit. Zaghafte Ansätze werden sabotiert. So ist von der russischen Regierung ein Lehrbuch verboten worden, in dem erstmals auch die Schattenseiten der Sowjetunion dargestellt worden sind. Bis heute gibt es kein Erinnerungszentrum für die Opfer des Terrors. Präsident Putin besuchte zwar jetzt eine der vielen Hinrichtungsstätten in der Sowjetunion – in Butovo nahe der Hauptstadt – und sagte dort auch, die 20.000 Erschossenen seien „sinnlosen Ideen“ geopfert worden, betonte aber, dass sich derartige Tragödien in der Weltgeschichte immer wiederholten. Menschenrechtsorganisationen kritisierten seine Rede als „PR-Übung“, sieht er doch nicht die Terrorherrschaft Lenins und Stalins als größte politische Katastrophe seines Landes an, sondern den Untergang der Sowjetunion 1991.

Vor Auschwitz war der Gulag

Es ist keine Schmälerung deutscher Schuld, wenn Historiker darauf hinweisen, dass auch die Revolution von 1917 den Boden für den II. Weltkrieg bereitete. So konnte Hitler über Deutschland hinaus mit seiner Behauptung Glauben finden, dass nur seine Machtübernahme den Sieg des Kommunismus in Deutschland verhindert habe. Vor dem schrecklichen Auschwitz gab es den ebenso schrecklichen russischen Gulag.

Die Rolle der Juden

Immer wieder ist von der hohen Beteiligung von Juden an der Durchsetzung des Kommunismus die Rede. Dazu hat der evangelische Kirchenhistoriker Gerhard Stricker (Zürich) festgestellt: „Dass Russen mit jüdischen Wurzeln in der Frühphase am Aufbau des Bolschewismus maßgeblich mitgewirkt haben, ist unbestritten – ebenso, dass sie sowohl in leitender als auch in ausführender Funktion im Vergleich zu anderen Sowjetvölkern zeitweise klar überrepräsentiert waren. Ihr Anteil war so groß, dass sich heute viele Russen – Nationalisten und Antisemiten – aus der Verantwortung für die Oktoberrevolution herauszustehlen versuchen und die Schuld für den gesamten Sowjet-Kommunismus ‚den Juden’ zuschieben.“ Auch werde darauf verwiesen, dass es eine „Jüdische Sektion der Kommunistischen Partei“ gegeben habe. Ebenso sei von jüdischen Aufsehern in Gefängnissen „oft Schauerliches zu lesen“. Doch, so Stricker, das Aufzählen auch von hundert „bolschewistischen Übeltätern mit jüdischen Namen“ führe nicht weiter, denn von den Abertausenden kommunistischen Henkern anderer Herkunft sei selten die Rede. Auch müsse erwähnt werden, dass z.B. 1925 in der Ukraine 45 % aller Juden von den Kommunisten zu Staatsfeinden erklärt worden seien und Stalin 1936 bis 1939 „praktisch alle Genossen jüdischer Herkunft“ aus dem Weg geräumt habe.

Was ist mit dem Westen?

Bis heute haben sich dieser Vergangenheit nicht nur Russland nicht gestellt, sondern ebenso beispielsweise nicht die westlichen Kirchen, von denen führende Persönlichkeiten jahrelang die Christenverfolgung leugneten und jeden, der sich antikommunistisch äußerte, als friedensgefährdend bezeichneten. So hatte der große reformierte Theologe Karl Barth selbst 1949 noch den Menschenschlächter Josef Stalin als „Mann von Format“ herausgestellt. Der große Streiter gegen das Dritte Reich – Martin Niemöller – nahm von der anderen großen Diktatur des 20. Jahrhunderts – der UdSSR – den Lenin-Preis entgegen. Auf die Frage nach der Situation der Christen in der Sowjetunion antwortete er 1969, er habe deren Führer gefragt, ob in ihrem Land Christen diskriminiert wurden. Sie hätten mit „Nein“ geantwortet, und er glaube ihnen. Und erst 2006 verhinderte die PDS zusammen mit anderen im Europarat, dass eine Resolution über die „Notwendigkeit einer Verurteilung der Verbrechen kommunistischer totalitärer Regime“ verabschiedet wurde. Dazu schrieb der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser im Magazin „Cicero“: Bis heute werden „die Millionen Toten, die die Verbrechen Stalins und Maos hervorgebracht haben, verniedlicht“.

Lesetipp:

Schwarzbuch Gulag, Die sowjetischen Konzentrationslager.
Herausgegeben von I. W. Dobrowolski, Autoren: Iwanowa, G. I. / Slawko, I. / Esnowskaja, G. F. I. W.
Einband gebunden
Seiten/Umfang 360 Seiten
50 schwarz-weiß Abbildungen, erschienen 2002
20,50 EURO

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