Meinungsfreiheit – für Lebensschützer gilt sie immer weniger

17. August 2007 in Deutschland


Deutschlands höchstes Gericht geht zu einer härteren Spruchpraxis über – Ein Kommentar von Marcus Mockler


Karlsruhe (kath.net/idea)
Jahrzehntelang war das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Bollwerk für die Meinungsfreiheit. Dieses Grund- und Menschenrecht wird dort geradezu als eine der Grundlagen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung betrachtet. Seit zwei Jahren steuern die Verfassungshüter allerdings einen neuen Kurs – und machen mit teilweise erstaunlichen Argumenten insbesondere christlichen Lebensschützern die Arbeit schwerer. Eingeleitet wurde die Wende ausgerechnet durch ein Urteil für einen Kirchenmann, den früheren berlin-brandenburgischen Konsistorialpräsidenten und späteren Ministerpräsidenten Brandenburgs, Manfred Stolpe (SPD).

Nett war das nicht, was sich die Umweltschutzorganisation Greenpeace 1990 ausgedacht hatte, um gegen „Klimakiller“ Propaganda zu machen: Auf bundesweit geklebten Plakaten zeigte man 1990 den damaligen Vorstandsvorsitzenden von Hoechst, Wolfgang Hilger, und den Chef der Kali-Chemie, Cyril van Lierde. Dazu kam der Spruch: „Alle reden vom Klima. Wir ruinieren es.“ Hintergrund war der Umstand, dass die beiden Konzerne als die letzten in Deutschland Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) produzierten, das die Ozonschicht in der Atmosphäre schädigt.

Hilger prozessierte dagegen, auf diese Weise an den Pranger gestellt zu werden. Erst 1999 kam es zu einem Beschluss durch das Bundesverfassungsgericht. Dort vertrat man die Ansicht, dass die Meinungsfreiheit ein höheres Gut sei als die Persönlichkeitsrechte des Angegriffenen. Greenpeace habe keine Schmähkritik betrieben, da nicht die Herabsetzung der Person im Vordergrund gestanden habe, sondern die Auseinandersetzung in der Sache (also der Kampf gegen FCKW). Hilgers Argument, der flüchtige Leser des Plakats nehme an, dass es sich bei der dargestellten Person „um eine besonders verabscheuungswürdige Person“ handele, obwohl er keine Gesetze übertreten habe, beeindruckte das Verfassungsgericht wenig. „Er wird zwar persönlich angegriffen, nicht aber seiner personalen Würde entkleidet“, heißt es in diesem Beschluss vom 8. April 1999.

Abtreibungsarzt am Pranger

Szenenwechsel. Am 16. Oktober 2001 verteilte der katholische Lebensschützer Klaus Günter Annen (Weinheim bei Heidelberg) in der Nähe einer Frauenarztpraxis Flugblätter mit der Parole: „Stoppt rechtswidrige Abtreibungen in der Praxis Dr. K.“, wobei der Name des Arztes ausgeschrieben und seine Adresse erwähnt war. Auf der Rückseite stand die Aufforderung: „Bitte helfen Sie uns im Kampf gegen die straflose Tötung ungeborener Kinder.“ Annen hatte nichts anderes getan, als die Formulierungen zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch unmittelbar auf den abtreibenden Frauenarzt anzuwenden. Denn im Paragraphen 218 heißt es ja, dass Abtreibungen rechtswidrig sind, aber unter bestimmten Bedingungen (wenn sie durch einen Mediziner in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen und nach einem Beratungsgespräch vorgenommen werden) straffrei bleiben.

Dennoch gab das Bundesverfassungsgericht am 24. Mai 2006 der Klage des Gynäkologen auf Unterlassung solcher Flugblätter recht. Obwohl Annen lediglich das Gesetz zitiert hatte und obwohl 1993 der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts es sogar als „von der Verfassung geboten“ eingestuft hatte, die Rechtswidrigkeit von Abtreibungen in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, drehten die Richter im vergangenen Jahr den Spieß um. Nun heißt es auf einmal, es sei eine „unwahre Tatsachenbehauptung“, dass der Frauenarzt rechtswidrige Abtreibungen durchführe. Begründung: Der Gynäkologe halte sich ja an die gesetzlichen Bestimmungen. Dass diese Bestimmungen selbst von Rechtswidrigkeit sprechen, kümmerte die Richter nicht. Im Gegenteil: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können.“ Von dieser eigenwilligen Interpretation des Flugblatts ausgehend wird auch die Prangerwirkung gegen den Frauenarzt kritisiert.

Zweierlei Maß?

Der Vergleich zum Rechtsstreit um Greenpeace und Hoechst-Chef Hilger drängt sich auf. Hier ein Konzernchef, der im Rahmen geltender Gesetze gearbeitet hat und sich um der Meinungsfreiheit willen gefallen lassen muss, in einer bundesweiten Plakataktion an den Pranger gestellt zu werden. Da ein Abtreibungsarzt, der ihm Rahmen geltender Gesetze arbeitet und es sich nicht gefallen lassen muss, dass seine Tätigkeit so benannt wird, wie es das Strafgesetzbuch auch tut. Zwar gibt es einen wichtigen Unterschied: Hilger und van Lierde waren die zwei letzten Hauptverantwortlichen für die FCKW-Produktion in Deutschland, der Gynäkologe aber nur einer von tausenden Ärzten, die Abtreibungen vornehmen. Dieser Unterschied relativiert sich andererseits, weil Annen ja nicht bundesweit gegen den Abtreiber plakatiert hat, sondern konkret vor dessen Praxisräumen. Der „Pranger“ reduzierte sich demnach auf den Bereich, in dem der Mediziner tatsächlich tätig war und für sein Handeln offensiv kritisiert werden sollte.

Das „vornehmste Menschenrecht“

Seit den 50er Jahren hat es wichtige Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Meinungsfreiheit gegeben. Etwa 1958 das Urteil zugunsten des Hamburger Senatsdirektors Erich Lüth. Dieser hatte zum Boykott des Regisseurs Veit Harlan aufgerufen, weil dieser im Nationalsozialismus den antisemitischen Film „Jud Süߓ gedreht hatte. Die Argumente, Harlan sei in Strafverfahren freigesprochen worden und habe auch nach der Entnazifizierung keine Auflagen für seine Arbeit erhalten, ließ das Gericht nicht gelten. Im Urteil steht, die freie Meinungsäußerung sei „eines der vornehmsten Menschenrechte“, ja sie sei Grundlage jeder Freiheit überhaupt.

Einen ähnlichen höchstrichterlichen Schutz bekamen 1991 die „kritischen Bayer-Aktionäre“, die ihrem Konzern wörtlich vorwarfen: „In seiner grenzenlosen Sucht nach Gewinnen und Profiten verletzt Bayer demokratische Prinzipien, Menschenrechte und politische Fairness ... Missliebige Kritiker werden bespitzelt und unter Druck gesetzt, rechte und willfährige Politiker werden unterstützt und finanziert.“ Obwohl in diesen Angriffen nicht nur Meinungen, sondern auch Tatsachenbehauptungen enthalten sind, vertrat das Bundesverfassungsgericht die Ansicht, dass diese Aussagen noch durch die Meinungsfreiheit abgedeckt seien.

Am besten in Erinnerung ist der Streit um das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“. Hier argumentierte das Bundesverfassungsgericht, „Mörder“ sei mehrdeutig. Die Rechtssprechung müsse zunächst von der Deutung ausgehen, die den sich Äußernden am wenigsten belaste. Wenn damit bei den Soldaten lediglich das Bewusstsein für ihre persönliche Verantwortung gestärkt oder geweckt werden sollte, sei der Satz von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Wende durch Stolpe-Urteil

Die Wende in der Rechtsprechung kam im Streit zwischen dem Berliner CDU-Politiker Uwe Lehmann-Brauns und dem SPD-Politiker Manfred Stolpe. Lehmann-Brauns sprach 1996 im Fernsehen von der „Tatsache, dass Herr Stolpe, wie wir alle wissen, IM-Sekretär, über 20 Jahre im Dienste des Staatssicherheitsdienstes tätig“ gewesen sei. Stolpe gelang es 2005, beim höchsten Gericht die Unterlassung dieser Aussage durchzusetzen. Unbestritten war Stolpe als IM Sekretär von der Stasi geführt und unbestritten hatte er als Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg zahlreiche Kontakte zu den DDR-Spitzeln. Da Stolpe aber die Mitarbeit abstreitet und nach eigenen Angaben auch keine Verpflichtungserklärung unterschrieben hat, kann man die Kritik an ihm auch als unwahre Tatsachenbehauptung verstehen, die nicht durch die Meinungsfreiheit abgedeckt ist.

Und nun passierte 2005 das eigentlich Neue. Das Bundesverfassungsgericht entschied, man könne nur dann eine günstigste Interpretation einer Aussage für den sich Äußernden annehmen, wenn es darum gehe, ob man diese Aussage nachträglich sanktionieren müsse. Gehe es aber um eine zukünftige Unterlassung derartiger Äußerungen, habe der Persönlichkeitsschutz Vorrang, denn: Der sich Äußernde könne bei mehrdeutigen Aussagen schließlich klar stellen, wie seine Äußerung nun tatsächlich zu verstehen sei. Im Klartext: Rückwirkend wird einer für eine polemische Meinungsäußerung nicht bestraft, wenn sie sich auch wohlwollend auslegen lässt – aber bei künftigen Äußerungen ist er dazu verpflichtet, klarer zu sagen, was er meint.

Auch Werturteile sind „klarzustellen“

Diese neue Kategorie bekam ein Jahr später der evangelische Lebensschützer Johannes Lerle zu spüren, der in Nürnberg vor einer Abtreibungsklinik Flugblätter mit dem Text „Stoppen Sie den Kinder-Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikum N. Damals Holocaust – heute: Babycaust“ verteilt hatte. Obwohl es hier nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um Werturteile ging, verlangte das Bundesverfassungsgericht im Interesse des Abtreibungsarztes, dass die Aussagen des Flugblatts „gegebenenfalls klarzustellen“ seien. Der Begriff „Babycaust“ sei nur erlaubt, wenn damit der Vorwurf einer verwerflichen Massentötung gemeint sei, nicht aber bei einer unmittelbaren Gleichsetzung mit dem nationalsozialistischen Massenmord an den Juden.

Meinungsfreiheit – nur mit Anwalt?

Für besorgniserregend hält Stefan Mückl, Privatdozent für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg, diese Rechtsprechung. Seiner Beobachtung nach gibt es in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern deutliche Tendenzen von Abtreibungsärzten und anderen Gruppen, Abtreibungskritiker durch Einleitung rechtlicher Schritte einzuschüchtern und im Extremfall mundtot zu machen. Mückl stört sich an den vielen beschönigenden Begriffen wie „reproduktive“, bzw. „sexuelle Gesundheit“ oder „geplante“, bzw. „verantwortete Elternschaft“, mit denen die Tötung eines ungeborenen Kindes verschleiert werde. „Eine klare Benennung dessen, was bei der Abtreibung geschieht, ist ein schützenswerter verfassungsrechtlicher Belang – im Interesse eines freien und offenen Meinungsklimas.“ Auffällig findet er in der Rechtssprechung auch die wohlwollende Interpretation gesellschaftskritischer Positionen, während abtreibungskritische Positionen eher streng beurteilt werden. Sollten Mückls Beobachtungen stimmen, dann wird auf Seite der Lebensschützer das Recht auf Meinungsfreiheit künftig wohl nur noch wahrnehmen können, wer sich einen Anwalt nimmt, bevor er den Mund aufmacht oder ein Flugblatt schreibt. So hatten sich die Verfassungsväter das allerdings nicht gedacht.


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