Türkei: In neunzig Jahren fast christenfrei

19. September 2006 in Interview


Interview mit dem Historiker Rudolf Grulich über den geleugneten Völkermord an den armenischen Christen und den vergessenen Holocaust an Aramäern und Assyrern.


München (www.kath.net / KIN) Über die große Bedeutung der Türkei für das Christentum, den geleugneten Völkermord an den armenischen Christen und den vergessenen Holocaust an Aramäern und Assyrern sprach der Historiker Rudolf Grulich im Interview mit „Kirche in Not“, das für das Fernsehmagazin „Weitblick“ und das Radio-Magazin „Weltkirche aktuell“ produziert wurde. Professor Dr. Rudolf Grulich lehrt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Gießen. Das Interview führte Michael Ragg.

Herr Professor Grulich, vor neunzig Jahren waren in der Türkei dreißig Prozent der Einwohner Christen - heute sind es nur noch 0,2 Prozent. Wie kam das?

Professor Grulich: Das kam durch politische Ereignisse, zunächst durch den Ersten Weltkrieg, als die Osmanische Türkei den ersten Holocaust des 20. Jahrhunderts begann, und zwar 1915 mit der „Endlösung“ der Armenierfrage. Nach dem Ersten Weltkrieg kam hinzu, dass durch den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch, der in Wahrheit ein christlich-muslimischer Austausch gewesen ist, alle Christen Kleinasien verlassen mussten.

Es hat also im letzten Jahrhundert nirgendwo einen so großen Rückgang des Christentums gegeben, wie in der Türkei - nicht einmal in der Sowjetunion. Herr Grulich, Sie haben das Buch „Konstantinopel - ein Reiseführer für Christen“ geschrieben. Es ist aber viel mehr als ein Reiseführer, weil sie darin auch die gesamte Geschichte des Christentums in der Türkei beschreiben. Ein Kapitel nennen Sie: „Die Türkei - ein Land der Bibel“. Warum?

Grulich: Es ist uns kaum bewusst, dass das Gebiet der heutigen Türkei sehr eng mit dem Alten und Neuen Testament verbunden ist. Denken wir nur daran, dass nach dem Alten Testament die Arche Noah auf dem Berg Ararat gelandet ist. Das ist heute der höchste Berg in der Türkei. Aber auch aus der Zeit der Patriarchen haben wir enge Beziehungen: Abraham war in Haran, das heute in der Südosttürkei südlich von Edessa, dem heutigen Urfa liegt, als er den Ruf Gottes hörte, in das Land zu ziehen, „das ich dir zeigen werde“.

Und wir wissen aus der Genesis, dass auch Abrahams Sohn Isaak seine Frau in Haran geholt hat; dass Jakob am Brunnen Rachel traf und dann zweimal sieben Jahre dienen musste, ehe er Rachel bekam. Das zeigt, dass Abraham auch von Kanaan aus immer noch die Nähe zu Haran gesucht hatte. Das Neue Testament ist so sehr mit der frühen christlichen Kirche verbunden, dass Papst Johannes Paul II. einmal sagte: Wenn Palästina - er sagte nicht Israel! - das Land Jesu sei, dann sei die Türkei das Land der Kirche.

Es ist ja fast völlig vergessen, wie sehr die katholische Kirche, wie sehr das Christentum überhaupt, auf dem beruht, was in der Türkei geschehen ist ...

Grulich: Das gilt schon für das erste Jahrhundert nach Christus. Unser heutiger Name „Christen“ ist auf dem Gebiet der heutigen Türkei entstanden. Lukas schreibt in der Apostelgeschichte, dass in Antiochien, dem heutigen Antakya in der Südosttürkei, die Jünger Jesu zum ersten Mal als „Christianoi“, als Christen, bezeichnet worden sind.

Ich kann mich noch erinnern, dass es im katholischen Messbuch vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil noch ein eigenes Fest gab „Petri Stuhlfeier zu Antiochien“. Dort residierte der erste Papst, bevor er nach Rom kam, weshalb auch das Fest „Petri Stuhlfeier zu Rom“ begangen wurde. Von Antiochien ist auch die ganze Mission des Christentums ausgegangen, denken wir an die Missionsreisen des Heiligen Paulus.

Und auch das Glaubensbekenntnis in der Form, wie es heute noch allen Christen gemeinsam ist, entstand ja auf dem Gebiet der heutigen Türkei.

Grulich: Da haben Sie vollkommen recht. Im Lateinischen Namen für dieses Glaubensbekenntnis „Nicaeno-Constantinopolitanum“ sind ja auch die Namen zweier heutiger türkischer Städte enthalten: Iznik, das alte Nizäa, und Konstantinopel, das heutige Istanbul. Im Jahr 325 ist auf dem ersten ökumenischen Konzil in Nizäa die Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater definiert worden; und 381 auch für den Heiligen Geist. Neben der Bibel ist dieses große Glaubensbekenntnis das letzte, was alle christlichen Kirchen und Gemeinschaften gemeinsam haben. In diesem Jahr haben wir sogar ein kleines Jubiläum: Das Konzil 381 fand vor 1625 Jahren statt.

Vielleicht rückt die Türkei und deren christliche Geschichte den Menschen noch näher, wenn wir erwähnen, dass Maria dort gestorben ist und dass einige volkstümliche Heilige aus dieser Region stammen ...

Grulich: In der Türkei wird in der Nähe von Ephesus das Haus Mariens verehrt. Es gibt zwar auch eine alte christliche Tradition, dass Maria in Jerusalem entschlafen sei. Daran erinnert die Kirche „Dormitio Mariae“ an diese Überlieferung, aber seit dem 19. Jahrhundert, seit den Ausgrabungen aufgrund der Weissagungen der heute selig gesprochenen Anna Katharina Emmerick, geht man davon aus, dass Maria mit Johannes, den Christus am Kreuz seine Mutter anvertraut hat, nach Ephesus ging und dort gestorben ist.

Ein schönes Beispiel, wie viele Heilige wir aus dieser Region haben, sind die Vierzehn Nothelfer. Zehn von ihnen hätten heute einen türkischen Pass. Die heilige Barbara, die heilige Margaretha, der heilige Blasius, der heilige Christophorus und andere- sie stammen alle aus diesem Raum.

Kaiser Konstantin, der das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion gemacht hat, hat das Zentrum des Reiches nach Konstantinopel, in das heutige Istanbul, verlegt. Das hat ja auch lange Bestand gehabt, bis sich Konstantinopel gegen die Angriffe muslimischer Völker nicht mehr halten konnte. Wie kam das?

Grulich: Es ist interessant, dass Konstantinopel nicht nur Hauptstadt wurde, sondern auch „das neue Rom“. Der heutige Ökumenische Patriarch der Orthodoxen Kirche hat den Titel eines Ökumenischen Patriarchen des neuen, des zweiten Roms. Konstantin hat damals versucht, Konstantinopel zu einem zweiten Rom zu machen. Nicht nur durch die vielen Kirchen, auch durch Apostelgräber. So wie das erste Rom seine Bedeutung durch die Apostelgräber hatte, sollten durch Apostelgräber des Heiligen Lukas, des Heiligen Titus, einem Apostelschüler, die Kirchen aufgewertet werden; und nicht umsonst ist Konstantin als Heiliger mit dem Beinamen „Apostelgleicher“, verehrt worden.

Tausend Jahre Bestand ist sehr lange für ein Weltreich, wenn wir bedenken, dass unser „Tausendjähriges Reich“ im 20. Jahrhundert. nur zwölf Jahre bestand und selbst die Sowjetunion keine Achtzigjahrfeier erlebt hat. Bis zum Niedergang des Oströmischen Reiches 1453 fühlten sich die Kaiser in Konstantinopel als Kaiser der Römer so wie auch bis 1806 im Westen ein „Römischer“ Kaiser herrschte. Im Osten hat das Vordringen des Islams schon bald nach Mohammed gewaltig geschadet. Eigentlich hat Byzanz, das „zweite Rom“, uns Europäer im Südosten achthundert Jahre verteidigt, bis es 1453 endgültig gefallen ist.

Wir haben gesagt, dass bis ins letzte Jahrhundert dreißig Prozent der Einwohner der Türkei Christen waren. Das lässt darauf schließen, dass das Zusammenleben mit den Muslimen nicht nur negativ gewesen sein kann.

Grulich: Der Eroberer, Sultan Mehmet II., hat selber wie früher der byzantinische Kaiser einen neuen Patriarchen eingesetzt, der zunächst für alle Christen im Reich zuständig sein sollte. Später erlaubte er einen armenischen Patriarchen, der zuständig war für die armenischen Gläubigen und im Laufe der Zeit sind auch andere Religionsgemeinschaften anerkannt worden. Es gab aber doch Schikanen in vielen Provinzen des Osmanischen Reiches. Aber es ist viel zu wenig bekannt, dass vor genau 150 Jahren 1856 von Seiten der damaligen Osmanischen Regierung, sogar vom Sultan, der auch Kalif war, also Stellvertreter Mohammeds auf Erden, im Türkischen Reich Religionsfreiheit gewährt wurde.

Damals hatten sich die westlichen Mächte im Krim-Krieg sehr engagiert und von der Osmanischen Regierung mit Erfolg diese Konzessionen verlangt. Das sollte Beispiel für die heutigen westlichen Regierungen sein, bei den EU-Beitrittsverhandlungen viel mehr als bisher auf die Türkei einzuwirken.

Sprechen wir über die großen Tragödien des letzten Jahrhunderts. Die größte war sicherlich das Massaker an den Armeniern. Was ist damals genau geschehen?

Grulich: Wir sehen immer nur das Jahr 1915, als am 24. April alle bedeutenden Armenier Konstantinopels, später ganz Kleinasiens und dann alle Armenier praktisch zur Vernichtung bestimmt worden sind. Aber das ganze hatte schon Vorzeichen: Es gab bereits 1895 und 1896 Pogrome mit Zehntausenden von Toten, und für die Pogrome von 1908 und 1909 bei Adana und in ganz Kilikien muss man mit Hunderttausenden von Toten rechnen. 1915 hat dann Innenminister Talaat Pascha eine „Endlösung“ verkündet.

Es war Krieg, den westlichen Mächten waren die Hände gebunden und das mit der Türkei verbündete kaiserliche Deutschland hat monatelang nichts getan, obwohl fast alle deutschen Konsulatsbeamten aus allen Konsulaten in der Türkei von Todesmärschen und Massakern berichtet haben. Als in August des Jahres 1915 die kaiserliche Regierung in Berlin höflich anfragte, was denn an den Gerüchten über die Armeniermassaker wahr sei, telegraphierte der Innenminister kurz und bündig zurück: „Die armenische Frage existiert nicht mehr“. Bis dahin waren schon die meisten Armenier umgekommen.

Das hat dann später besonders Adolf Hitler interessiert ...

Grulich: Ja, Hitler soll bei Vorhaltungen seiner Gefolgsleute, was die Weltöffentlichkeit zum Mord an den Juden sagen werde, noch vor dem Polenfeldzug gesagt haben: „Wer spricht heute noch von den Armeniern?“

Wir tun es heute und man wird noch mehr darüber sprechen müssen, denn die Türkei will ja in die Europäische Union. Sie hat aber dieses Verbrechen noch nicht aufgearbeitet. Da gibt es einen berühmten Schriftsteller, Orhan Pamuk, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Er wurde vor Gericht gezerrt wegen „öffentlicher Verunglimpfung des Türkentums“, weil er auf den Völkermord an den Armeniern hingewiesen hat. Wie weit ist die Türkei mit der Aufarbeitung?

Grulich: Das lässt sich nur schwer in kurzen Worten erklären. Auf der einen Seite ist etwa der Roman von Franz Werfel „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ins Türkische übersetzt. Ich habe in vielen Buchläden in Istanbul diesen Roman im Schaufenster gesehen. Auf die Frage an die Buchhändler: „Hatten sie deswegen schon Schwierigkeiten?“ kam meist mit einem Lächeln die Antwort: „bis jetzt noch nicht.“ In diesem Jahr ist ein türkisch-englischer Reiseführer über die Gebiete östlich von Ankara erschienen. Da wird auch über das Geschehen von 1915 gesprochen. Es wird aber verharmlost, dass es „Kollateralschäden“ im Rahmen des Krieges gewesen seien. Ich bin überzeugt, dass die Türkei dieses Thema auch aufarbeiten wird, da es Ansätze nach dem Ersten Weltkrieg gab.

Wie viele Armenier sind denn ums Leben gekommen?

Grulich: Es hat damals über zwei Millionen Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei gegeben. Heute leben höchstens hunderttausend in der Türkei. Wenn man davon ausgeht, dass viele flüchten konnten, muss man trotzdem die Zahl der getöteten Armenier mit über einer Million ansetzen.

Steckten hinter dem Massaker eher religiöse oder politische Gründe?

Grulich: Es waren vielleicht nicht nur politische, sondern sogar rassistische Gründe. Die damaligen drei jungtürkischen Führer der Türkei, das Triumvirat von Enver Pascha, Cemal Pascha und Talaat Pascha, wollten das „Türkentum“ stärken – und da waren die Armenier in Anatolien und im ganzen Reich für sie ein Dorn im rassistischen Auge. Dass dieser Rassismus im Vordergrund stand, sehen wir auch daran, dass in den Anweisungen zur Deportation und Vernichtung oft von der „verfluchten Rasse“ gesprochen wurde, die man auszurotten habe; und daran, dass man auch andere nichttürkische Gruppierungen, vor allem die christlichen Aramäer und Assyrer einem Holocaust ausgeliefert hat: Sie hatten über eine halbe Million Opfer von 1915 bis 1918, von denen heute kaum noch jemand spricht – außer die Nachkommen der Opfer in Deutschland, die ja gute Kontakte zu „Kirche in Not“ haben.

Bedauerlich ist, dass die damalige türkische Führung die muslimische Karte ausgespielt hat und es gelungen ist, nichttürkische muslimische Gruppen auf ihre Seite zu bekommen, leider auch die Kurden und vor allem die Tscherkessen. Gerade diese muslimischen nichttürkischen Minderheiten haben sich bei den Massakern hervorgetan.

Wie hat sich denn die folgende türkische Regierung unter Atatürk verhalten, die ja als Wegbereiter der Türkei nach Europa gilt?

Grulich: Es ist wenig bekannt, dass 1919 ein Kriegsverbecherprozess in Istanbul gegen Verantwortliche für das Armeniermassaker stattgefunden hat, in dem man die drei Rädelsführer in Abwesenheit zum Tode verurteilt hat. Damals soll Präsident Atatürk gesagt haben: Man hätte diese „Mischpoke“ schon vorher aufhängen sollen. Das heißt, er war damals auch für diesen Prozess. Natürlich stand der Prozeß in Istanbul unter dem starken Druck der Sieger. Die Engländer, die in Konstantinopel Truppen hatten, haben den Prozess durchgesetzt.

Aber es war ein türkisches Gericht, noch unter dem Sultan, das ihn geführt hat. Die Hauptkriegsverbrecher, das jungtürkische Triumvirat mit den bereites genannten Enver, Cemal und Talaat Pascha, sind in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, weil die deutsche Regierung nach Kriegsende diese drei Verbrecher mit einem U-Boot nach Russland und von dort aus nach Berlin gebracht hatte. Sie sind dann in Berlin zum Teil frei herum gelaufen, wie bis vor kurzem noch Herr Karadzic oder Herr Mladic in Belgrad.

Als dann Talaat Pascha von einem armenischen Studenten, der aus einem Massengrab flüchten konnte, in dem er alle Angehörigen verlor, 1921 in Berlin erschossen wurde und dieser Student vor Gericht stand, da konnten Zeugen und Fachleute Beweise vorlegen, dass es sich um Völkermord gehandelt hat und dass Talaat Pascha einer der treibenden Kräfte war. Die Türkei und auch Atatürk sind dann umgeschwenkt, als Pläne der Sieger bekannt geworden sind, die restliche Türkei völlig aufzuteilen. Atatürk hat dann später Kriegsverbrecher, die führend bei Massakern beteiligt waren, in die Regierung aufgenommen. Leider!

Sie haben den Roman von Franz Werfel angesprochen „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Den kann man ja bei uns überall bekommen, viele kennen ihn und mancher, der sich noch näher mit den Geschehnissen beschäftigen will, könnte auf die Idee kommen, ihn jetzt zu lesen. Worum geht es da?

Grulich: Der Prager Jude Franz Werfel hat 1929 in Damaskus überlebende Armenier kennen gelernt, die zum Teil unter sehr schlechten Bedingungen in Armut und Not lebten. Er wollte damals, wie er im Vorwort des Romans sagt, „dieses unfassbare Geschehen dem Totenreich des Vergessens entreißen“. Am Musa Dagh hatten sich 1915 die Armenier gegen die Deportation gewehrt und auf den Berg zurück gezogen, wo sie sich vierzig Tage gegen die Türken verteidigten, ehe sie von einem französischen Kriegsschiff gerettet und nach Ägypten gebracht wurde. Werfel konnte mit vielen Überlebenden sprechen, hat dann später im Mechitaristen-Kloster in Wien darüber geforscht und dort auch einen Pater kennen gelernt, der am Musa Dagh beteiligt war.

Das Buch „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ist ein historischer Roman, in dem eigentlich alles der Wirklichkeit entspricht, nur der Hauptheld des Buches ist erfunden. Deshalb läßt ihn der Autor auch am Ende des Romans umkommen. Ich habe als Student 1966 noch Dutzende Überlebende des Musa Dagh im damals noch jordanischen Jerusalem, aber auch im Libanon und Syrien getroffen und interviewt.

Der Völkermord an den Armeniern war nicht das einzige Drama, das sich in der Türkei im vergangenen Jahrhundert abgespielt hat. Das nächste war dann die Vertreibung der griechischen Bevölkerung.

Grulich: Es hat bereits während des Ersten Weltkriegs Übergriffe auf die griechische Bevölkerung des westlichen Kleinasiens gegeben, aber es gab auch Griechen, die in der osmanischen Armee gekämpft haben. Das wird heute in vielen türkischen Romanen dargestellt, so etwa in dem Buch „Die Ameiseninsel“ von Yasar Kemal. Im Jahr 1919 haben die Griechen unter der königlichen Regierung die Stadt Izmir, das alte Smyrna, besetzt, und es ist leider schon am Tag der Besetzung zu furchtbaren Massakern unter der türkischen Bevölkerung gekommen.

Es sollen mehr als tausend türkische Frauen und Kinder massakriert worden sein, wie das Schweizerische Rote Kreuz feststellte. Damals erklärte auch Churchill, dass „das Recht die Fronten gewechselt habe“. Das war sicher auch ein Grund, warum die Mehrheit der türkischen Bevölkerung plötzlich gegen die Kriegsverbrecherprozesse eingestellt war. „Was sollen wir Kriegsverbrecher verurteilen, wenn die Sieger es ebenso tun?“

Griechenland hat sich damals nicht mit Izmir begnügt; sondern wollte das Byzantinische Reich aufrichten. Man sprach von der „Großen Idee“ und begann dann den Vormarsch gegen Ankara. Aber in einer neuntägigen Schlacht vor Ankara ist das griechische Heer so geschlagen worden wie später Hitler vor Moskau, und im Rückzug haben die Türken die Griechen quasi ins Meer geworfen.

Die Kriegsgegner vereinbarten dann im Frieden von Lausanne 1923 einen Bevölkerungsaustausch. In der Literatur wird davon gesprochen, dass es ein griechisch-türkischer Bevölkerungsaustausch gewesen sei, aber der Vertragstext besagt, das orthodoxe Christen aus der Republik Türkei und Muslime aus dem Königreich Griechenland jeweils in das Mutterland zurückkehren sollen. Das muss man deshalb betonen, weil die Griechen unter den schätzungsweise 400.000 Umsiedlern auch albanische Muslime, Zigeuner und slawische Muslime, sogenannte Pomaken, umgesiedelt haben und weil unter der Zahl von über einer Million umgesiedelter Griechen auch etwa 100.000 türkischsprachige Christen, die Karamanli, waren.

Eine andere christliche Minderheit hat ja länger überlebt, im Osten der Türkei. Das waren syrische Christen im Raum von Tur Abdin. Aber die sind ja auch sehr dezimiert worden im Laufe der Jahrzehnte.

Grulich: Bei den syrischen Christen mit zum Teil noch aramäischer Muttersprache muss man verschiedene christliche Kirchen unterscheiden: Nestorianer, sogenannte Monophysiten, Chaldäer, syrische Unierte und seit dem 19. Jahrhundert auch Protestanten. In der Türkei residierte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs sogar der Patriarch der Nestorianer, der ältesten syrischen Gruppe, im Hakkari-Gebiet. Der syrisch-orthodoxe Patriarch hatte seinen Sitz im Tur Abdin und ist erst in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts nach Damaskus umgezogen.

Bei beiden Gruppen gab es katholische Zweige, die sich im Laufe der Jahrhunderte wieder an Rom angeschlossen hatten. Es gab noch eine weitere christliche Gruppe, weil im 19. Jahrhundert durch anglikanische und amerikanische Missionare viele dieser Syrer protestantisch wurden. Deshalb spricht man heute gerne von Assyrern, um über die religiösen Unterschiede hinweg ein Nationalgefühl zu schaffen.

Diese syrischen Christen, die zu einem großen Teil noch die Muttersprache Jesu, Aramäisch oder Neusyrisch, gesprochen haben, sind 1915 vom Holocaust betroffen worden, doch überlebten 200.000 Christen im Südosten der Türkei.Um der Diskriminierung vor allem durch die dortigen Kurden zu entgehen, sind die meisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgewandert, Zehntausende auch nach Deutschland, wo sie einen Bischof in Warburg haben. Für die Kinder dieser Christen hat „Kirche in Not“ die Kinderbibel auch in West- und Ostaramäisch herausgebracht.

Herr Professor Grulich, herzlichen Dank für das Gespräch!


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