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Der Vatikan und der Völkermord an den Armeniern

2. März 2015 in Interview, 8 Lesermeinungen
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Interview mit Michael Hesemann, der 2000 Seiten unveröffentlichter Dokumente zum Armenozid im Vatikanischen Geheimarchiv entdeckte – und sie jetzt in einem spektakulären neuen Buch veröffentlicht. Von Yuliya Tkachova


Rom (kath.net) Interview mit Michael Hesemann, der 2000 Seiten unveröffentlichter Dokumente zum Armenozid im Vatikanischen Geheimarchiv entdeckte – und sie jetzt in einem spektakulären neuen Buch veröffentlicht.

Yuliya Tkachova: Herr Hesemann, Sie sind Fachautor für kirchengeschichtliche Themen. Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet über den Völkermord an den Armeniern zu schreiben?

Hesemann: Durch einen Zufall. Ich arbeite seit 2008, also seit Erscheinen meiner Biografie Pius XII., an einem zweiten Buch, das noch dezidierter sein mutiges Eintreten für die verfolgten Juden behandeln wird. Damals, 2008, erhielt ich auch erstmals die Erlaubnis, im Vatikanischen Geheimarchiv zu forschen. Da begann ich, alle bereits freigegebenen Bestände durchzuarbeiten, angefangen mit der Zeit, als Eugenio Pacelli Apostolischer Nuntius in München und Berlin war, also 1917-1929.

Dabei stieß ich auf ein Dokument, das mich tief bewegte. Es war der glühende Appell des damaligen Erzbischofs von Köln, Kardinal von Hartmann, an den damaligen Reichskanzler, weitere Ausschreitungen gegen die Armenier beim türkischen Verbündeten zu verhindern. Darin schrieb Kardinal von Hartmann, die „Verfolgung der Armenier im Jahre 1915“ würde „an Grausamkeit den Christenverfolgungen der ersten christlichen Jahrhunderte“ nicht nachstehen. Es seien „Gräuel vor Gott“, ja „himmelschreiende Gräuel“, die zu verhindern die Reichsregierung moralisch verpflichtet sei, wolle sie nicht „vor Gott und der Geschichte“ für diese verantwortlich gemacht werden. Nun war Kardinal von Hartmann keineswegs ein Kriegsgegner oder friedensbewegter Moralist. Er war konservativ und kaisertreu, ein glühender Nationalist, der sogar vor dem Papst in Rom den deutschen Einmarsch im neutralen Belgien verteidigt hatte. Dass ausgerechnet er so leidenschaftlich für die Armenier Partei ergriff, zeigte mir, wie erschüttert er von den Nachrichten aus dem Orient gewesen sein muss. Schon aus „Sorge um die Ehre des deutschen Namens“, so von Hartmann wörtlich, müsse man den türkischen Verbündeten zur Raison bringen.

Später erfuhr ich dann, wieder eher zufällig, bei Recherchen in Nazareth, dass Kardinal von Hartmanns Nichte eine der Missionsschwestern in Mossul war und er daher offenbar aus erster Hand von den Gräueln des Völkermordes erfahren haben musste. Natürlich war davon auszugehen, dass noch weitere Priester, und Missionare und natürlich die Vertreter der mit Rom unierten Armenisch-Katholischen Kirche ihre Bischöfe und diese wiederum den Heiligen Stuhl über die größte Christenverfolgung des frühen 20. Jahrhunderts informierten. Diese Berichte, davon konnte ich ausgehen, mussten sich im Vatikanarchiv befinden. Also machte ich mich auf die Suche danach.

Tkachova: Und wurden fündig. Aber was genau fanden Sie?

Hesemann: Zunächst einmal etwa 600 Seiten in den Akten des päpstlichen Staatssekretariats vom Ersten Weltkrieg. Doch ich vermisste die Akten der Apostolischen Delegation in Konstantinopel. Schließlich teilte man mir mit, dass diese noch unter Verschluss standen, weil sie einen ziemlich langen Zeitraum umfassten, bis weit ins Pontifikat Pius XII., das noch nicht für Historiker freigegeben ist.

Also schrieb ich an den Präfekten des Vatikanischen Geheimarchivs, Msgr. Sergio Pagano, und bat ihn um Einsicht der Akten aus dem Pontifikat Benedikts XV., des Weltkriegspapstes, denn nur die interessierten mich für dieses Projekt. Die wurde mir schließlich gewährt, unter der Bedingung, dass ein Archivmitarbeiter mich dabei begleitete, was für mich nur hilfreich war. Und so wurde mir ein weiterer Quellenschatz von 1200 Seiten eröffnet. Zusammen mit den Dokumenten zur Armenierfrage in den Archiven der Nuntiaturen in München und Wien hatte ich dann in rund 2000 Seiten Einblick.

Tkachova: Welche neuen Erkenntnisse gewannen Sie aus diesen Akten? Muss die Geschichte des Völkermordes jetzt umgeschrieben werden?

Hesemann: Dass die Geschichtsbücher völlig umgeschrieben werden sollten, verlangen in der Regel eher Amateure, nicht seriöse Historiker. Seriöse historische Forschung muss wenig umschreiben, aber vieles ergänzen. Sie fügt dem bereits bekannten Bild immer neue Aspekte und Perspektiven hinzu.

Nun habe ich, um das bereits bekannte Bild zu kennen und ergänzen zu können, die wichtigste Fachliteratur zum Armenier-Genozid, auch Armenozid genannt, durchgearbeitet und zu meinem Schrecken festgestellt, wie wenig Beachtung bislang in der Forschung die Bemühungen des Heiligen Stuhls gefunden haben, die Gräuel zu beenden. Natürlich konnte dies nur auf diplomatischem Wege geschehen, denn das Osmanische Reich war bekanntlich keine christliche Nation; Christen hatten nichts zu sagen, Christen waren die Opfer dieser Verfolgung und es herrschte Krieg. Also waren auch die Möglichkeiten, Druck auf das jungtürkische Regime auszuüben, begrenzt.

Trotzdem muss man sagen, dass Papst Benedikt alles nur Menschenmögliche versucht hat, die Machthaber umzustimmen – von zwei Briefen an den Sultan und diversen Eingaben des Apostolischen Delegaten bis hin zu Interventionen bei den Verbündeten, von denen leider der eine, das preußisch-protestantische Deutsche Reich, völlig desinteressiert und der andere, das katholische Österreich-Ungarn, machtlos war. Außer falschen Versprechungen der Türken, etwa die katholischen Armenier zu verschonen oder gar die Deportierten wieder in ihre Heimat zurückkehren zu lassen, wurde nichts erreicht.


1,5 Millionen armenische Christen starben unter schrecklichsten Umständen vor den Augen ihrer Priester und Bischöfe (die oft genug ebenfalls ermordet wurden) und den völlig hilflosen ausländischen Seelsorgern und Missionaren.

Doch um Ihre zweite Frage zu beantworten: Nein, ich habe die Geschichte des armenischen Völkermordes nicht umgeschrieben. Aber ich habe sie gewiss um eine nicht unbedeutende neue Perspektive ergänzt und der Forschung einen neuen Quellenschatz eröffnet.

Tkachova: Hatte es je eine reelle Chance gegeben, das Morden zu stoppen?

Hesemann: Ja, auf jeden Fall. Wenn das Deutsche Reich, der wichtigste Verbündete der Osmanen, Druck auf das Jungtürken-Regime ausgeübt hätte. Aber daran hatte Berlin kein Interesse. Man wollte es sich mit den Türken nicht verscherzen. Dabei hätte man durchaus Erfolg haben können, wie sich zeigte, als der Heilige Stuhl zugunsten der jüdischen Siedler in Palästina intervenierte, die ebenfalls von den Türken deportiert und ermordet werden sollten. Sofort wurde der türkische Befehlshaber Cemal Pascha abgelöst durch einen deutschen General, von Falkenhayn. Der war im Grunde ein anständiger Kerl, der die Juden gut behandelte und Jerusalem schließlich kampflos an die Briten übergab, um ein Blutvergießen an den Heiligen Stätten dreier Weltreligionen zu verhindern.

Tkachova: Also intervenierte Berlin zugunsten der Juden, aber nicht der Armenier?

Hesemann: Ja! Der Grund ist offensichtlich. Es lebten um die 600.000 Juden im Deutschen Reich, sie dienten natürlich auch im Deutschen Heer, die schockiert auf Massaker an ihren Glaubensbrüdern im Heiligen Land reagiert hätten. Als gebildete Minderheit hatten sie Zugang zu den Medien und zur Politik. Armenier dagegen gab es nur ein paar hundert. Die spielten politisch keine Rolle, auf die brauchte man keine Rücksicht zu nehmen, für die interessierte sich kaum jemand.

Tkachova: Das klingt ziemlich zynisch…

Hesemann: Tut es auch. Aber wie schrieb Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in einem amtlichen Dokument: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grund gehen oder nicht.“ Darum hatte Kardinal von Hartmann völlig recht.

Gleich, ob nun deutsche Militärs im Dienst der Osmanen am Völkermord direkt oder nur indirekt beteiligt waren, worüber die Forschung noch streitet. Aber als Mitwisser und Mitverschweiger des Völkermordes an den Armenier haben wir Deutsche uns mitschuldig gemacht. Umso größer ist unsere Verantwortung, jetzt endlich für Aufklärung zu sorgen und dem leidgeprüften armenischen Märtyrervolk zu Gerechtigkeit zu verhelfen: Der Völkermord an den Armeniern ist eine schreckliche und traurige historische Tatsache, daran kann kein Zweifel mehr bestehen. Auch wenn die moderne Türkei, allen voran Erdogan, eben dies noch immer bestreitet und zu vertuschen versucht.

Tkachova: Auf welche Weise?

Hesemann: Etwa indem sich Ankara in den Inhalt deutscher Geschichtsbücher und Lehrpläne einmischt! So geschehen 2005 in Brandenburg, was sogar zu einer Bundestagsdebatte führte. Doch als über 156.000 Deutsche im Rahmen des „Bürgerdialogs“ Frau Merkel Anfang 2012 aufforderten, die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern, ähnlich wie das Leugnen der Schoah, unter Strafe zu stellen, winkte die Kanzlerin nur ab: Die „Aufarbeitung der Ereignisse“ sei eine bilaterale Angelegenheit zwischen Armenien und der Türkei und ginge Deutschlands nichts an. Eine solche Haltung ist schon skandalös angesichts der Tatsache, dass dies alles quasi mit deutschem „nihil obstat“ geschah – von uns einfach gebilligt wurde! Da drückt sich die Kanzlerin vor der historischen Verantwortung unseres Landes. Dabei liegen einige der eindrucksvollsten Zeugnisse für die Verbrechen der Türkei im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin!

Tkachova: Die Türkei behauptet, es habe sich um kriegsbedingte Umsiedlungsmaßnahmen gehandelt. Zudem habe es eine armenische Kollaboration mit dem Feind, den Russen, und diverse Aufstände gegeben. Und schließlich seien auch nicht 1,5 Millionen Armenier, wie Sie behaupten, sondern nur 300.000 durch Krankheiten und Missstände bei der Versorgung ums Leben gekommen.

Hesemann: Ja, diese drei türkischen Lügen widerlege ich in meinem Buch. Denn das ist, was die Vatikandokumente zum Armenozid, oder, in offizieller vatikanischer Sprachregelung, der „Verfolgung der Armenier“, zweifelsfrei belegen:

1. Es gab nie einen armenischen Aufstand. „Die Behauptung, die Armenier hätten sich Waffen besorgt und planten einen Aufstand, ist eine reine Verleumdung“ heißt es ganz deutlich in einem Bericht, den das armenisch-katholische Patriarchat im Herbst 1915 an den Vatikan schickte. Das wird auch von den deutschen Konsuln und Missionaren vor Ort bestätigt. Es gab armenische Politiker, die vor Mordanschlägen der Jungtürken nach Russisch-Armenien geflohen waren und Armenier, die sich dort vor den Massakern in Sicherheit brachten und schließlich auf russischer Seite kämpften. Andere desertierten aus der Armee oder versuchten, sich der Einberufung zu entziehen und wieder andere leisteten Widerstand, als die Massaker angeordnet wurden – aber es gab weder einen geplanten Aufstand noch eine Verschwörung mit dem Zarenreich!

2. Wären nur die Armenier aus den Frontgebieten evakuiert worden, hätte man ja noch an „kriegsbedingte Umsiedlungsmaßnahmen“ glauben können. Doch die Armenier aus den Provinzen Aleppo oder Diyarbekir im äußersten Südosten der Türkei wurden ebenso deportiert wie die Armenier von Angora, dem späteren Ankara im Herzen des Landes. Bevor sich die Deportationsmärsche in Bewegung setzten, wurden meist sämtliche armenischen Männer zwischen 17 und 70, die noch nicht einberufen worden waren, ermordet; nur Frauen, Kinder und Greise wurden auf die wochenlangen Todesmärsche geschickt. Die zogen so lange kreuz und quer durch das Land, bis ein großer Teil der Unglücklichen an Erschöpfung, Krankheit oder Misshandlung durch die türkischen Gendarmen zugrunde gegangen war. Für die wenigen, die diese Strapazen überlebten, gab es keine Zukunft: Nur Konzentrationslager in der syrischen Wüste, in denen sie unter freiem Himmel bei Hitze und Kälte, mit völlig unzureichenden Lebensmittelrationen und fehlender medizinischer Versorgung nur noch krepieren konnten – oder Wochen später noch tiefer in die Wüste getrieben wurden, wo man sie oft genug massakrierte, wenn sie nicht schnell genug starben. „Es ist unmöglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, was im Landesinnern geschieht“, schrieb der Apostolische Delegat, Msgr. Dolci, am 20. August 1915 an den Vatikan, „Die gesamte armenische Bevölkerung wird systematisch und auf brutalste Weise aus ihren Städten und Dörfern vertrieben und an unbekannte Orte verschleppt … viele Karawanen wurden, sobald sie in verlassene Gegenden kamen, von ihren Führern massakriert.“ Das hat mit Umsiedlung nichts mehr zu tun, das war ein geplanter Völkermord. Mit den Worten des armenisch-katholischen Patriarchen: Ein „Projekt zur Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei.“

3. Tatsächlich scheint es gar nicht einmal um die orthodoxen Armenier gegangen zu sein, denen man offiziell die Kollaboration mit dem Feind vorwarf, sondern um die „Reinigung“ des Landes von seinen nichtislamischen Elementen gemäß der islamofaschistischen, „pantürkischen“ Ideologie der Jungtürken und ihrer Chefideologen. So stellte der Kapuziner-Superior Norbert Hofer in einem Bericht an den Vatikan deutlich fest, dass hinter den Deportationen die Absicht stand, „alle christlichen Elemente im Land ungestraft vernichten zu können.“ Tatsächlich wurden ja neben den orthodoxen Armeniern auch die Katholiken und Protestanten, ja sogar die völlig unbeteiligten aramäischen (syrischen) Christen und orthodoxe Griechen ebenfalls verfolgt, deportiert und ermordet. Von den katholischen Armeniern, die nun wirklich mit Russland nichts am Hut hatten und mehrheitlich die zentralanatolischen Provinzen bewohnten, sind sogar prozentual mehr ermordet wurden, nämlich unglaubliche 86,7 %, als von den orthodoxen Armeniern, wo es „nur“ 71,6 % waren – und das trotz wiederholter Versprechen an den Vatikan, die Katholiken zu verschonen. So erklärte auch der armenisch-katholische Patriarch in einem Bericht an den Vatikan: „Es ist sicher, dass die osmanische Regierung beschlossen hat, das Christentum aus der Türkei zu beseitigen, bevor der Weltkrieg zu Ende geht.“ Und nicht nur das Christentum: nur knapp entgingen die jüdischen Palästina-Siedler einem ähnlichen Schicksal!

4. Zur Zahl der Opfer ist zu sagen, dass schon in einem Vatikandokument aus dem Herbst 1915 von „beinahe 1 Million Opfer“ die Rede ist – bevor das Massensterben und Morden an den Deportierten in der syrischen Wüste überhaupt begonnen hatte. In meinem Buch weise ich nach, weshalb die Zahl von 1,5 Millionen ermordeten Armeniern realistisch ist – insgesamt fielen sogar 2,5 Millionen Christen der Verfolgung der Jahre 1915-1922 zum Opfer, die nach dem Sturz der Jungtürken von Kemal Atatürk munter fortgeführt wurde.
So muss man sagen, dass auch die Vatikandokumente die offizielle türkische Version der Geschichte eindrucksvoll widerlegen und Beweise liefern, dass es ein geplanter Völkermord war. Stellen Sie sich doch mal bitte vor: Vor dem 1. Weltkrieg war jeder fünfte Bewohner des Osmanischen Reiches Christ. Heute sind es nur noch 0,2 %. Die größte Christenverfolgung der Geschichte hat also zu dem von den Ideologen gewünschten Ergebnis geführt.

Tkachova: Gewiss der umstrittenste Aspekt Ihres Buches ist die Querverbindung, die Sie zur Schoah, zum Holocaust der Nazis ziehen. Relativieren Sie nicht den Holocaust, indem Sie ihn seiner Singularität berauben?

Hesemann: Im Gegenteil: Wer das Dritte Reich und seine Gräueltaten aus ihrem historischen Kontext reißt, macht jede Prävention unmöglich. Wenn wir verhindern wollen, dass sich Hitler wiederholt, müssen wir verstehen, aus welchem Sumpf er seine Ideologie schöpfte, welche Entwicklungen seinen Aufstieg möglich machten und wer oder was seine Vorbilder waren. Denn natürlich ist der Nationalsozialismus das Produkt einer Reihe von Strömungen, die in der NSDAP zusammenflossen. Hitler ist mit seinen Wahnideen weder vom Himmel gefallen noch aus der Hölle gekrochen und auch 1945 nicht dorthin verschwunden. Die Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg hat seinen Aufstieg erst möglich gemacht, Protagonisten und Statisten dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ haben ihm zum Aufstieg verholfen und bildeten seine Infrastruktur. Er selbst berief sich ja mehrfach auf den Armenozid. Der Gründer der DAP hatte vor dem Krieg in jungtürkischen Kreisen gewirkt, zu Hitlers frühesten Kampfgefährten zählten Augenzeugen des Armenozids. „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier“ soll er gesagt haben, als er seine Generäle auf den Einmarsch in Polen einschwor. Mit seinen Deportationen, den Todesmärschen und Konzentrationslagern ist der Armenozid natürlich das historische Vorbild für den Holocaust, und doch war dieser ganz anders: industrialisierter, entmenschlichter. Der Armenozid war archaisch und barbarisch, die Schoah dagegen perfektionierte, ja industrialisierte den Völkermord und tötete viermal mehr Menschen in regelrechten Tötungsfabriken. Doch die Singularität der Schoah zu postulieren hieße, ihre Wiederholbarkeit zu bestreiten, denn, wie es Hagen Schulze klug formulierte: „Das Singuläre lehrt nichts für die Zukunft, denn es ist seiner Natur nach nicht wiederholbar.“ Gerade wegen der Gefahr der Wiederholbarkeit ist es so sträflich, das türkische Urverbrechen zu leugnen.

Tkachova: Im kommenden April jährt sich der Völkermord an den Armeniern zum hundertsten Mal. Überall auf der Welt sind Gedenkfeiern geplant. Zuvor erscheint Ihr Buch. Was erwarten Sie von diesem Ereignis?

Hesemann: Ich hoffe, dass auch die von mir veröffentlichten Dokumente dazu beitragen, die Diskussion um den Armenozid neu zu entfachen. Wenn der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war, dann war der Völkermord im Osmanischen Reich das Urverbrechen. Er kann nicht mehr bestritten werden, jetzt, wo noch ein weiterer Quellenschatz die Historizität der berichteten Ereignisse bestätigt und die Armenier von allen Verschwörungsvorwürfen exkulpiert.

Doch die Vatikandokumente, vor allem der mutige Appell von Kardinal von Hartmann, ziehen auch Deutschland in die Verantwortung. Gerade weil wir Bundesgenossen der Türken, Mitwisser und Wegschauer waren, ist es an uns, dafür zu werben, dass dieses dunkelste Kapitel der türkischen Geschichte endlich aufgearbeitet wird. Gerade weil in Deutschland drei Millionen Türken leben, sollte es uns eine Pflicht sein, dieses Thema in den Schulen zu behandeln, in der Hoffnung, dass die Fakten auf diesem Weg auch in die Türkei getragen werden. Dabei dürfen wir uns von Erdogan & Co. nicht einschüchtern lassen.

Es darf vor den Gerichten keine Völkermorde erster und zweiter Klasse geben, nicht solche, die man nicht leugnen darf und solche, die munter und wider aller Fakten bestritten werden können. Jede Leugnung des Genozids an den Armeniern sollte inakzeptabel sein. Denn sie verhöhnt die Opfer, deren schiere Existenz sie bestreitet oder verleumdet sie, wenn sie diese zu Schuldigen erklärt. Vor allem aber schützt sie ihre Mörder. Das verheißt auch den Völkermördern von heute einen Freispruch vor der Geschichte, wenn bloß ihre Begründung plausibel genug erscheint. Dabei sollten wir alles daran setzen, dass sich die Schrecken einer Christenverfolgung oder „ethnischen Säuberung“ nicht wiederholen. Gerade in unserer Zeit, in der die Christen im Nahen Osten erneut unter Terror und Vertreibung leiden, während die Welt es wieder einmal vorzieht wegzuschauen.

Tkachova: Besonders mutig hat sich Papst Franziskus gezeigt, der den Völkermord an den Armeniern mehrfach anprangerte. Sie haben seine Biografie geschrieben. War es auch ihr Wunsch, ihn zu verteidigen?

Hesemann: Ich bin dem Heiligen Vater immens dankbar dafür, dass er dieses Thema bei mehreren Gelegenheiten offen zur Sprache gebracht hat. Auch wenn meine Suche nach den Akten über den Völkermord noch im Pontifikat Benedikts XVI. begann, kann ich nicht bestreiten, dass sie gerade nach der heftigen Gegenreaktion der Türkei auf die Äußerung von Papst Franziskus in vatikanischen Kreisen auf Wohlwollen stieß. Insofern haben seine Worte mir gewiss die Aktualität und Wichtigkeit dieses Themas verdeutlicht und mich inspiriert, mit Nachdruck an meinem Buch zu arbeiten.

Tkachova: Danke für dieses Interview!

kath.net-Buchtipp
Völkermord an den Armeniern
Mit unveröffentlichten Dokumenten aus dem Geheimarchiv des Vatikans über das größte Verbrechen des Ersten Weltkriegs
Von Michael Hesemann
Hardcover, 352 Seiten; Fotos
2015 Herbig
ISBN 978-3-7766-2755-8
Preis 25.70 EUR

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Lesermeinungen

 Kardiologe 3. März 2015 
 

Franz Werfel

Erinnert sei in diesem Kontext an Franz werfels "Vierzig Tage des Musa Dagh". Grandios geschildert, ohne Effekthascherei.


5
 
 Ad Verbum Tuum 2. März 2015 

Aufmerksamkeit stiften?

wer hat entsprechende Zugänge oder Möglichkeiten, diesen Artikel und/oder das Buch bei großen Zeitungen oder Politikern zu platzieren?
Noch schlimmer als Amerika (bzgl. Indianer & Sklaven) duckt sich die Türkei vor der geschichtlichen Verantwortung weg. Dies ist ein Thema internationaler Beziehungen. Mit China & Russland ist man m.E. weniger zimperlich.


6
 
 Fink 2. März 2015 
 

Wo sind die linken Gutmenschen

eigentlich bei diesem Thema ?
Ich höre nichts !?


5
 
 gegenstrom 2. März 2015 
 

Auch ich bin der Meinung, dass Erdogan keine Hand ausgestreckt hat. Im Gegenteil. Er befahl den Abriss eines Monuments in Kars, das eine Geste der Versöhnung sein sollte. Dass Herr Hesemann diesen vergessenen und verleugneten Genozid nun wieder ins Licht der Öffentlichkeit rückt, finde ich gut.


8
 
 mhesemann 2. März 2015 
 

Erdogan die Hand ausgestreckt?

Leider hat Erdogan den Armeniern lediglich zum 99. Jahrestag des Völkermordes sein Beileid ausgesprochen, so, als seien 1,5 Millionen Christen einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen und nicht einem von Türken geplanten und durchgeführen Völkermord. Das konnte und kann den Armeniern nicht genügen. Die Rechtsnachfolger der Mörder sollten zumindest die Kinder und Enkel der Opfer um Entschuldigung bitten!


15
 
 Seramis 2. März 2015 
 

Völkermord an Christen systematisch verschwiegen

Es ist unfassbar, wie dieses Menschheitsverbrechen hierzulande tabuisiert wird. Jürgen Gottschlich hat mehrere Artikel zu diesem Thema verfasst. Seiner Darstellung nach waren vor allem kriegstaktische Überlegungen dafür verantwortlich, dass das das Deutsche Reich das Morden der Türken nicht unterbunden hat: 1915 war es in einen Zweifrontenkrieg geraten und brauchte die Türkei als Bündnispartner gegen Russland. Reichskanzler von Bethmann-Hollweg wischte die eindringlichen Mahnungen des deutschen Botschafters Metternich mit widerlichem Zynismus vom Tisch: "Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grund gehen oder nicht." (http://taz.de/100-Jahrestag-Genozid-an-Armeniern/!155511/)
Übrigens hat sich später der Pfarrer und Orientmissionar Johannes Lepsius große Verdienste um die Dokumentation und Aufarbeitung dieses Genozids erworben. Leider ohne langfristigen Erfolg, und leider auch er vergessen.


16
 
 alexius 2. März 2015 

Danke für Interview und Buchhinweis - Anmerkung zu einem Detail

Diese Forschungen vom Archiv weg sind äußerst wichtig auf dem Weg der Aufarbeitung und Anerkennung genozidalen Handelns. Allerdings halte es für wenig hilfreich, immer nur auf 1 türkischen Politiker hinzuhauen, der in Wirklichkeit früher als andere erkannt hat, dass die ganze Sache nicht mehr verschwiegen werden kann. Leider nimmt er betreffend Wahlen auf nationalistische Oppositionswähler Rücksicht, aber Papst Franziskus hat es auf der Rückreise von der Türkei im Vorjahr richtig gesagt: "Die türkische Regierung hat ein Zeichen gesetzt: der damalige Premierminister Erdoğan hat an dem Tag, an dem sich dieser Gedenktag jährte, einen Brief geschrieben. Einen Brief, der manchen nicht deutlich genug war, meiner Meinung nach aber – egal, ob die Geste nun groß oder klein war – einer ausgestreckten Hand gleichkam. Und das ist immer positiv. Ich kann die so ausstrecken, in der Erwartung dessen, was der andere sagt. Und das, was der damalige Premierminister [Erdogğan] getan hat, ist positiv."


2
 
 Stefan Fleischer 2. März 2015 

Das Deutschland zumindest indirekt beteiligt gewesen ist,

habe ich erst durch diesen Artikel erfahren. Das erklärt aber vieles, was mir im Umgang Deutschlands mit der Türkei bisher unverständlich war. Könnte das auch die Haltung Deutschlands (und der ganzen wesstlichen Welt) im Umgang mit dem Völkermord durch den IS erklären? Wann lernen wir endlich, dass Recht und Gerechtigkeit über dem politischen Kalkül stehen müssen, wenn wir eine bessere Welt erreichen wollen?
Eine solche Umkehr des Denkens aber wird erst möglich, wenn Gott wieder als Gott verkündet und anerkannt wird.


16
 

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